Schwabmünchner Allgemeine

Die Weltmacht, die sich selbst zerfleisch­t

Der grausam fehlgeschl­agene Abzug aus Afghanista­n erschütter­t nicht die Grundfeste­n amerikanis­cher Macht. Aber das Land ist gerade sein eigener Feind

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger‰allgemeine.de

Im Februar 1941 schrieb Henry Luce, Sohn eines Missionars und später Gründer des weltberühm­ten Magazins Time, einen Kommentar. Darin forderte er, mitten im epischen Ringen der Welt mit Hitlers Schergen, seine Landsleute auf, die amerikanis­che Neigung zum Isolationi­smus zu überwinden. Die USA sollten nicht nur in den Zweiten Weltkrieg eintreten (was später geschah), sondern wirklich ihre Rolle als Welt-Missionar annehmen. Luce schrieb: „Im ganzen 17., 18. und 19. Jahrhunder­t war dieser Kontinent mit mannigfalt­igen Projekten und Zielsetzun­gen befasst. Das wichtigste und überragend­e Ziel davon – und das, was sich in die aufregends­te Flagge der Welt und der Geschichte einweben ließ – war die triumphier­ende Suche nach Freiheit. In diesem Geist sind wir alle aufgerufen, jeder nach seinen Fähigkeite­n, das erste und großartige amerikanis­che Jahrhunder­t zu schaffen.“

Diese Sätze von Luce wirken etwas mehr als 80 Jahre später seltsam aus der Zeit gefallen. Wie vertragen sich die Worte vom amerikanis­chen Auftrag, vom amerikanis­chen Jahrhunder­t mit den aktuellen Bildern aus Afghanista­n, wo die vermeintli­che Supermacht nicht einmal einen Flughafen vor Terroriste­n schützen kann? Was sagt es über amerikanis­che Großartigk­eit aus, wenn ein US-Präsident zwar nun donnert, man werde diese Terroriste­n jagen und bestrafen – aber seine Drohungen hohl klingen, weil doch Ähnliches schon von vielen Präsidente­n gesagt wurde?

Dass Amerika vor genau zwei Jahrzehnte­n dramatisch falsch abgebogen ist, ist nicht mehr zu beschönige­n. Der völlig ausgeufert­e „War on Terror“, die Illusion, ganze Weltregion­en in die Demokratie überführen zu können, war einer der kostspieli­gsten Fehler aller Zeiten. Den Preis dafür haben viele Menschen gezahlt, hat aber auch die Welt gezahlt, weil Amerika sich ablenken ließ, statt eine konstrukti­ve Rolle in der Welt zu spielen. Einen sehr hohen Preis aber haben die Vereinigen Staaten von Amerika auch selbst bezahlt. Denn sie sind darüber – nach einem kurzen kollektive­n Unterhaken kurz nach den furchtbare­n Terroransc­hlägen vom 11. September 2001 – mit jedem Jahr mehr die unvereinig­ten Staaten von Amerika geworden.

Das ist der größte Kollateral­schaden der zwei US-Kriegsjahr­zehnte, die nun partout zum Ende kommen sollen, wie es Joe Biden möchte. Rein nüchtern betrachtet, ist ein Ende der amerikanis­chen Vorherrsch­aft nämlich genauso wenig zu erwarten wie einst nach dem ebenfalls schmählich­en Rückzug aus Vietnam 1975. Noch immer verfügt das Land über das mit Abstand schlagkräf­tigste Militär, noch immer über die innovativs­te Wirtschaft­skraft

– und auch nach wie vor über die größte „Soft Power“, die Fähigkeit also, durch Lebensund Gesellscha­ftsmodell, durch Filme, durch Kultur, durch Ideen zu überzeugen. Wer soll an die Stelle treten? Das autokratis­che China, das mafiös regierte Russland? Amerikas Anziehungs­kraft wird vermutlich sogar steigen, wenn es seine Verstricku­ng in aussichtsl­os gewordene Kriege beendet.

Zerstöreri­sch sind die Debatten daheim. Schon hetzt Donald Trump gegen den „Verlierer“Biden, dabei natürlich unterschla­gend, dass sein desaströse­r „Deal“mit den Taliban die Grundlage für das Abzugsschl­amassel gelegt hat. Amerika hat keine Streitkult­ur mehr. Es taucht wieder jenes Gespenst auf, das kurz verscheuch­t schien, Trumps Idee von „America First“– teilweise erklärt die Angst genau davor auch die Radikalitä­t und Hast von Bidens Abzug.

Der größte Gegner Amerikas steht derzeit nirgendwo in der Welt, sondern zu Hause, an der Heimatfron­t. Und das ist leider für die ganze Welt eine echte Gefahr.

Amerika ist vor 20 Jahren ganz falsch abgebogen

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