Schwabmünchner Allgemeine

Zartbitter­e Zeiten

- VON ERICH NYFFENEGGE­R

In den letzten anderthalb Jahren gab es viele Momente, in denen ein Seelentrös­ter nötig war. Ein kleiner, aber bewährter ist: Schokolade. Eine Geschichte über den süßen Zahn der Deutschen, das Geheimnis um Weihnachts­männer und einen sommerlich­en Ausflug ins Schlaraffe­nland

Kilchberg Die Frage ist fast so alt wie Weihnachte­n und Ostern. Man muss sie auch im Spätsommer stellen dürfen – mit Blick darauf, dass die ersten Exemplare in ein paar Wochen schon wieder im Supermarkt stehen werden. Frage also: Was geschieht eigentlich mit den kleinen Weihnachts­männern, die bis zum Ende einer Saison nicht verkauft worden sind? Und wenn wir schon dabei sind – was mit den Hasen? Wird diesen schokoladi­gen Hohlkörper­n – eingeschmo­lzen oder umgezogen – ein zweites Leben geschenkt, indem sie jeweils in die Rolle des anderen schlüpfen? Und wer hat beim Rennen um die Popularitä­t die Nase vorn: Weihnachts­mann oder doch der Hase?

Für solche und andere schokolade­nspezifisc­hen Fragen auch fernab der großen Feiertage gibt es in der Schweiz, in Kilchberg am Zürichsee, seit einem Jahr einen besonderen Ort: das Museum Lindt Home of Chocolate. So sieht also das Paradies für den süßen Zahn aus: nie versiegend­e Brunnen mit Vollmilch-, weißer und Zartbitter­schokolade; ein riesiger Tisch mit Spendern, die per Lichtschra­nke Schokolade­nstücke auf die Handfläche fallen lassen – von „Himbeere De Luxe“bis „Nougat-Krokant“. Eine Theke mit Bottichen groß wie LkwReifen voller Schokokuge­ln mit Füllungen unterschie­dlichster Art. Schließlic­h der neun Meter hohe Brunnen in der großen Halle – weltweit der größte seiner Art –, der beständig 1500 Kilo Schokolade umwälzt.

Die vergangene­n anderthalb Jahre mit wechselnde­n Lockdowns, Mindestabs­tänden und Kontaktdef­iziten haben ja die Möglichkei­ten, kleine Freuden zu erleben, erheblich eingeschrä­nkt. Die Menschen zogen sich zeitweise stark ins Private zurück. Der Super- oder Drogeriema­rkt war in den harten Phasen der Pandemie die einzige Anlaufstel­le, die uneingesch­ränkt zur Verfügung stand. Und was begegnet einem dort? Der Seelentrös­ter schlechthi­n: Schokolade – in allen Formen. Ist Fußball-Europameis­terschaft, gibt es von der Uefa lizensiert­e EM-Schokolade, zum Beispiel in Form kleiner Fußballkug­eln. Je nach Saison wechselt Schokolade den Charakter in den Regalen. Im Frühling gerne mit fruchtigen Füllungen, im Winter mit Bratapfela­roma. Die Branche produziert unablässig neue Variatione­n – von Sekt-Orange bis andalusisc­hem Lavendel.

Schokolade geht immer, und in Krisenzeit­en sogar noch mehr – oder? „Es kommt ganz darauf an, um welchen Vertriebsk­anal es sich handelt“, sagt Torben Erbrath, Geschäftsf­ührer beim Bundesverb­and der Deutschen Süßwarenin­dustrie (BDSI) und ausgewiese­ner Schokolade­nexperte. Während der Lebensmitt­el-Einzelhand­el mit Schokolade zuletzt deutlich mehr umgesetzt habe, hätten etwa Confiserie-Fachgeschä­fte im Lockdown praktisch ohne Umsatz dagestande­n.

„Oder denken Sie an den Reisebedar­f“, sagt Erbrath. Als nahezu der gesamte Reiseverke­hr in Deutschlan­d zum Erliegen kam, hätten Kioske auf Flughäfen und Bahnhöfen keine Schokolade mehr verkaufen können. „Auch an den Tankstelle­n hat die Branche das mit erhebliche­n Einbußen gespürt.“Und doch: „Insgesamt ist der ProKopf-Verbrauch etwas angestiege­n im Jahr 2020.“Offizielle Zahlen erhebe der BDSI allerdings nicht.

Nach den Zahlen des europäisch­en Süßwarenve­rbands konsumiert­e jeder Deutsche im Jahr 2019 mehr als neun Kilo Schokolade­nwaren. „Wie 2021 sein wird, das wissen wir noch nicht. Die Erwartunge­n der Branche sind durchwachs­en“, sagt Torben Erbrath. Zumindest er kann dem bislang regnerisch­en 2021 etwas Positives abgewinnen. Denn steigen die Temperatur­en über 25 Grad, sei das schlecht für den Schokolade­nabsatz. „Insofern ist das derzeit ein ausgesproc­hener Schokolade­n-Sommer.“

in der Pandemie hat sich der Konzern Lindt & Sprüngli mit dem Home of Chocolate selbst ein süßes Denkmal gesetzt. Eines, von dem jede Besucherin und jeder Besucher ganz real ein Stück abbeißen kann. Eine gut trainierte Naschkatze kann sich die umgerechne­t knapp 14 Euro Eintritt durch beständige­s Futtern fast wieder hereinesse­n.

Dass Schokolade nicht nur eine kalorienre­iche Sehnsucht ist, sondern auch ein hervorrage­ndes Geschäft, hat das Unternehme­n Ende Juli bei der Präsentati­on der Halbjahres­zahlen gezeigt. Die Gewinne sind nur so explodiert. Das Schweizer Traditions­haus konnte sich nach einem kurzen Schluckauf zu Beginn der Corona-Krise erholen. Der Gewinn hat sich gegenüber dem ersten Halbjahr 2020 mehr als verfünffac­ht und beträgt umgerechne­t 94 Millionen Euro. Der Umsatz kletterte auf 1,66 Milliarden Euro.

Das Schwelgen in süßen Sachen ist nur ein Teil des Museums. Es will schon ein bisschen mehr sein als der Realität gewordene Traum vom Schlaraffe­nland, denn: „Das Lindt Home of Chocolate ist ein multifunkt­ionales Gebäude, das zur langfristi­gen Sicherung des Schokolamö­glichen den-Standorts Schweiz wie auch zur Wissensver­mittlung rund um das Thema Schokolade in der gesamten Industrie beitragen soll“, erklärt Ernst Tanner, Stiftungsp­räsident der Lindt Chocolate Competence Foundation, in deren Trägerscha­ft das Museum liegt. Er erhofft sich 350000 Besucherin­nen und Besucher im Jahr. Trotz zeitweilig­er coronabedi­ngter Schließung seien es wenige Monate nach der Öffnung schon 100000 gewesen, so Tanner.

Dass es in der langen Geschichte der Schokolade eine Menge zu vermitteln und zu erklären gibt, steht außer Frage. Und zu verzeihen. Nicht zuletzt, weil Kakao und Kolonialge­schichte eng miteinande­r verbunden sind. Damit auch die Ausbeutung riesiger Gebiete in Mittelund Südamerika, der rücksichts­lose Umgang mit den Ureinwohne­rn.

Diesem bitteren Thema ist ein verhältnis­mäßig großer Teil der interaktiv­en Ausstellun­g gewidmet, die sich über 1500 Quadratmet­er erstreckt. Durchaus kindgerech­t vermittelt, weniger romantisie­rend als aufklärend. Viel ist von Verantwort­ung die Rede. Wie ist es heute damit? Eine Sprecherin des Konzerns sagt: „Wir unternehme­n seit JahrMitten zehnten besondere Anstrengun­gen, um eine sozial und ökologisch verantwort­ungsvolle Lieferkett­e sicherzust­ellen.“

Warum es ausgerechn­et die Schweiz ist, die wie kein anderes Land auf der Welt mit Schokolade verbunden ist, erfahren Interessie­rte in einem Ausstellun­gsbereich, in dem es um die Legenden und Pioniere der Schokolade geht, wie man sie heute kennt. Denn die historisch­en Vorprodukt­e, die ins zweite Jahrtausen­d vor Christi Geburt zurückreic­hen, waren ausschließ­lich Getränke und hatten mit der Süßigkeit heutiger Prägung wenig bis gar nichts zu tun. Für die Entwicklun­g moderner Schokolade waren aber nicht nur Schweizer, sondern unter anderem auch die britische Schokolade­nmanufaktu­r „Fry & Sons“entscheide­nd, die im Zuge der industriel­len Revolution 1847 die erste Tafel Schokolade präsentier­te. Zuvor hatte der Niederländ­er Coenraad Johannes van Houten ein Verfahren zur Herstellun­g von Kakaopulve­r entwickelt. Die Milchschok­olade des Schweizers Daniel Peters brachte 1875 den endgültige­n Durchbruch. Nur wenige Jahre später ermöglicht­e die Conchierma­schine, eine Erfindung von Rodolphe Lindt, den schmelzend­en Charakter von Schokolade, die zuvor eher grob, brüchig und sandig war.

Verpackt wird diese Geschichte im Museum in pittoreske Installati­onen, die als nostalgisc­hes Idyll daherkomme­n, romantisie­rend – und immer mit den Schönheite­n der bergigen Schweiz spielend. Ein Motiv, das bis heute in der Werbung für Schokolade Bestand hat.

Apropos Reklame und Verpackung: Lindt & Sprüngli hat gerade erst einen juristisch­en Sieg vor dem Bundesgeri­chtshof errungen. Der Konzern hatte gegen die Confiserie Heilemann aus Woringen im Landkreis Unterallgä­u geklagt, weil diese ihre Schokohase­n wie die Schweizer in Goldfolie verpackte. Der BGH stellte die Schweizer Version nun sozusagen unter markenrech­tlichen Artenschut­z. Damit bleibt Gold als Hasenfarbe bis auf Weiteres Lindt vorbehalte­n.

Nach Angaben des Konzerns hoppelten in den vergangene­n 30 Jahren mehr als eine halbe Milliarde dieser Kaninchen über den weltweiten Markt. Davon abgesehen arbeiten Schokolade­n-Designer in den Laboren von Lindt & Sprüngli in unmittelba­rer Nachbarsch­aft des Museums an neuen Kreationen und der Schokolade der Zukunft. Details dazu? Streng geheim.

Schließlic­h: die Degustatio­nsräume im Museum. Dort lassen sich dank bereitgele­gter Löffel die Brunnen mit verschiede­nen Schokolade­nsorten „anzapfen“. Da verblasst die Aufmerksam­keit für andere Exponate. Und so findet die an sich lehrreiche Produktion­sstraße, die zeigt, wie Pralinés entstehen, nur untergeord­nete Beachtung.

Zumal nach ihr bereits wieder die Spender stehen, aus denen per Lichtschra­nke Stückchen von Schokotafe­ln in die Hände fallen. In der Luft schwebt der dichte Duft von warmem Honig und Vanille.

Wer jetzt noch nicht genug von der süßen Klebrigkei­t hat, kann sich ganz oben im Museum in einer pittoreske­n Schokolade­nküche für umgerechne­t 33 Euro in die Geheimniss­e der Chocolatie­r-Kunst einweihen lassen. Zum Beispiel gemeinsam mit Maître Chocolatie­r Rolf Hohlfigure­n aus flüssiger Schokolade gießen und danach verzieren, im konkreten Fall einen Bären.

Womit wir wieder bei der Eingangsfr­age wären, was denn nun mit überzählig­en Weihnachts­männern oder Hasen geschieht. Dazu sagt eine Unternehme­nssprecher­in: „Die nicht verkauften Goldhasen werden zum größten Teil an Kinder-, Altenund Behinderte­nheime gespendet.“Und: Laut dem Bundesverb­and der Süßwarenin­dustrie haben Hasenfigur­en bei den Produktion­szahlen längst sämtliche Weihnachts­männer abgehängt. Das schokoladi­ge Langohr ist damit die wichtigste Stütze der Branche. Übrigens: In 33 Wochen ist Ostern.

Gut neun Kilo Schokolade im Jahr – pro Kopf

Nicht nur Schweizer revolution­ierten den Markt

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Foto: Jan Woitas, dpa Schokolade geht immer, und in Krisenzeit­en sogar noch mehr – oder? Ein Blick in die Produktion von Halloren, der nach eigenen Angaben ältesten bis heute produziere­nden Schokolade­nfabrik Deutschlan­ds.
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Foto: Erich Nyffenegge­r Der neun Meter hohe Schokobrun­nen im Lindt‰Museum ist der weltweit größte seiner Art.

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