Zartbittere Zeiten
In den letzten anderthalb Jahren gab es viele Momente, in denen ein Seelentröster nötig war. Ein kleiner, aber bewährter ist: Schokolade. Eine Geschichte über den süßen Zahn der Deutschen, das Geheimnis um Weihnachtsmänner und einen sommerlichen Ausflug ins Schlaraffenland
Kilchberg Die Frage ist fast so alt wie Weihnachten und Ostern. Man muss sie auch im Spätsommer stellen dürfen – mit Blick darauf, dass die ersten Exemplare in ein paar Wochen schon wieder im Supermarkt stehen werden. Frage also: Was geschieht eigentlich mit den kleinen Weihnachtsmännern, die bis zum Ende einer Saison nicht verkauft worden sind? Und wenn wir schon dabei sind – was mit den Hasen? Wird diesen schokoladigen Hohlkörpern – eingeschmolzen oder umgezogen – ein zweites Leben geschenkt, indem sie jeweils in die Rolle des anderen schlüpfen? Und wer hat beim Rennen um die Popularität die Nase vorn: Weihnachtsmann oder doch der Hase?
Für solche und andere schokoladenspezifischen Fragen auch fernab der großen Feiertage gibt es in der Schweiz, in Kilchberg am Zürichsee, seit einem Jahr einen besonderen Ort: das Museum Lindt Home of Chocolate. So sieht also das Paradies für den süßen Zahn aus: nie versiegende Brunnen mit Vollmilch-, weißer und Zartbitterschokolade; ein riesiger Tisch mit Spendern, die per Lichtschranke Schokoladenstücke auf die Handfläche fallen lassen – von „Himbeere De Luxe“bis „Nougat-Krokant“. Eine Theke mit Bottichen groß wie LkwReifen voller Schokokugeln mit Füllungen unterschiedlichster Art. Schließlich der neun Meter hohe Brunnen in der großen Halle – weltweit der größte seiner Art –, der beständig 1500 Kilo Schokolade umwälzt.
Die vergangenen anderthalb Jahre mit wechselnden Lockdowns, Mindestabständen und Kontaktdefiziten haben ja die Möglichkeiten, kleine Freuden zu erleben, erheblich eingeschränkt. Die Menschen zogen sich zeitweise stark ins Private zurück. Der Super- oder Drogeriemarkt war in den harten Phasen der Pandemie die einzige Anlaufstelle, die uneingeschränkt zur Verfügung stand. Und was begegnet einem dort? Der Seelentröster schlechthin: Schokolade – in allen Formen. Ist Fußball-Europameisterschaft, gibt es von der Uefa lizensierte EM-Schokolade, zum Beispiel in Form kleiner Fußballkugeln. Je nach Saison wechselt Schokolade den Charakter in den Regalen. Im Frühling gerne mit fruchtigen Füllungen, im Winter mit Bratapfelaroma. Die Branche produziert unablässig neue Variationen – von Sekt-Orange bis andalusischem Lavendel.
Schokolade geht immer, und in Krisenzeiten sogar noch mehr – oder? „Es kommt ganz darauf an, um welchen Vertriebskanal es sich handelt“, sagt Torben Erbrath, Geschäftsführer beim Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) und ausgewiesener Schokoladenexperte. Während der Lebensmittel-Einzelhandel mit Schokolade zuletzt deutlich mehr umgesetzt habe, hätten etwa Confiserie-Fachgeschäfte im Lockdown praktisch ohne Umsatz dagestanden.
„Oder denken Sie an den Reisebedarf“, sagt Erbrath. Als nahezu der gesamte Reiseverkehr in Deutschland zum Erliegen kam, hätten Kioske auf Flughäfen und Bahnhöfen keine Schokolade mehr verkaufen können. „Auch an den Tankstellen hat die Branche das mit erheblichen Einbußen gespürt.“Und doch: „Insgesamt ist der ProKopf-Verbrauch etwas angestiegen im Jahr 2020.“Offizielle Zahlen erhebe der BDSI allerdings nicht.
Nach den Zahlen des europäischen Süßwarenverbands konsumierte jeder Deutsche im Jahr 2019 mehr als neun Kilo Schokoladenwaren. „Wie 2021 sein wird, das wissen wir noch nicht. Die Erwartungen der Branche sind durchwachsen“, sagt Torben Erbrath. Zumindest er kann dem bislang regnerischen 2021 etwas Positives abgewinnen. Denn steigen die Temperaturen über 25 Grad, sei das schlecht für den Schokoladenabsatz. „Insofern ist das derzeit ein ausgesprochener Schokoladen-Sommer.“
in der Pandemie hat sich der Konzern Lindt & Sprüngli mit dem Home of Chocolate selbst ein süßes Denkmal gesetzt. Eines, von dem jede Besucherin und jeder Besucher ganz real ein Stück abbeißen kann. Eine gut trainierte Naschkatze kann sich die umgerechnet knapp 14 Euro Eintritt durch beständiges Futtern fast wieder hereinessen.
Dass Schokolade nicht nur eine kalorienreiche Sehnsucht ist, sondern auch ein hervorragendes Geschäft, hat das Unternehmen Ende Juli bei der Präsentation der Halbjahreszahlen gezeigt. Die Gewinne sind nur so explodiert. Das Schweizer Traditionshaus konnte sich nach einem kurzen Schluckauf zu Beginn der Corona-Krise erholen. Der Gewinn hat sich gegenüber dem ersten Halbjahr 2020 mehr als verfünffacht und beträgt umgerechnet 94 Millionen Euro. Der Umsatz kletterte auf 1,66 Milliarden Euro.
Das Schwelgen in süßen Sachen ist nur ein Teil des Museums. Es will schon ein bisschen mehr sein als der Realität gewordene Traum vom Schlaraffenland, denn: „Das Lindt Home of Chocolate ist ein multifunktionales Gebäude, das zur langfristigen Sicherung des Schokolamöglichen den-Standorts Schweiz wie auch zur Wissensvermittlung rund um das Thema Schokolade in der gesamten Industrie beitragen soll“, erklärt Ernst Tanner, Stiftungspräsident der Lindt Chocolate Competence Foundation, in deren Trägerschaft das Museum liegt. Er erhofft sich 350000 Besucherinnen und Besucher im Jahr. Trotz zeitweiliger coronabedingter Schließung seien es wenige Monate nach der Öffnung schon 100000 gewesen, so Tanner.
Dass es in der langen Geschichte der Schokolade eine Menge zu vermitteln und zu erklären gibt, steht außer Frage. Und zu verzeihen. Nicht zuletzt, weil Kakao und Kolonialgeschichte eng miteinander verbunden sind. Damit auch die Ausbeutung riesiger Gebiete in Mittelund Südamerika, der rücksichtslose Umgang mit den Ureinwohnern.
Diesem bitteren Thema ist ein verhältnismäßig großer Teil der interaktiven Ausstellung gewidmet, die sich über 1500 Quadratmeter erstreckt. Durchaus kindgerecht vermittelt, weniger romantisierend als aufklärend. Viel ist von Verantwortung die Rede. Wie ist es heute damit? Eine Sprecherin des Konzerns sagt: „Wir unternehmen seit JahrMitten zehnten besondere Anstrengungen, um eine sozial und ökologisch verantwortungsvolle Lieferkette sicherzustellen.“
Warum es ausgerechnet die Schweiz ist, die wie kein anderes Land auf der Welt mit Schokolade verbunden ist, erfahren Interessierte in einem Ausstellungsbereich, in dem es um die Legenden und Pioniere der Schokolade geht, wie man sie heute kennt. Denn die historischen Vorprodukte, die ins zweite Jahrtausend vor Christi Geburt zurückreichen, waren ausschließlich Getränke und hatten mit der Süßigkeit heutiger Prägung wenig bis gar nichts zu tun. Für die Entwicklung moderner Schokolade waren aber nicht nur Schweizer, sondern unter anderem auch die britische Schokoladenmanufaktur „Fry & Sons“entscheidend, die im Zuge der industriellen Revolution 1847 die erste Tafel Schokolade präsentierte. Zuvor hatte der Niederländer Coenraad Johannes van Houten ein Verfahren zur Herstellung von Kakaopulver entwickelt. Die Milchschokolade des Schweizers Daniel Peters brachte 1875 den endgültigen Durchbruch. Nur wenige Jahre später ermöglichte die Conchiermaschine, eine Erfindung von Rodolphe Lindt, den schmelzenden Charakter von Schokolade, die zuvor eher grob, brüchig und sandig war.
Verpackt wird diese Geschichte im Museum in pittoreske Installationen, die als nostalgisches Idyll daherkommen, romantisierend – und immer mit den Schönheiten der bergigen Schweiz spielend. Ein Motiv, das bis heute in der Werbung für Schokolade Bestand hat.
Apropos Reklame und Verpackung: Lindt & Sprüngli hat gerade erst einen juristischen Sieg vor dem Bundesgerichtshof errungen. Der Konzern hatte gegen die Confiserie Heilemann aus Woringen im Landkreis Unterallgäu geklagt, weil diese ihre Schokohasen wie die Schweizer in Goldfolie verpackte. Der BGH stellte die Schweizer Version nun sozusagen unter markenrechtlichen Artenschutz. Damit bleibt Gold als Hasenfarbe bis auf Weiteres Lindt vorbehalten.
Nach Angaben des Konzerns hoppelten in den vergangenen 30 Jahren mehr als eine halbe Milliarde dieser Kaninchen über den weltweiten Markt. Davon abgesehen arbeiten Schokoladen-Designer in den Laboren von Lindt & Sprüngli in unmittelbarer Nachbarschaft des Museums an neuen Kreationen und der Schokolade der Zukunft. Details dazu? Streng geheim.
Schließlich: die Degustationsräume im Museum. Dort lassen sich dank bereitgelegter Löffel die Brunnen mit verschiedenen Schokoladensorten „anzapfen“. Da verblasst die Aufmerksamkeit für andere Exponate. Und so findet die an sich lehrreiche Produktionsstraße, die zeigt, wie Pralinés entstehen, nur untergeordnete Beachtung.
Zumal nach ihr bereits wieder die Spender stehen, aus denen per Lichtschranke Stückchen von Schokotafeln in die Hände fallen. In der Luft schwebt der dichte Duft von warmem Honig und Vanille.
Wer jetzt noch nicht genug von der süßen Klebrigkeit hat, kann sich ganz oben im Museum in einer pittoresken Schokoladenküche für umgerechnet 33 Euro in die Geheimnisse der Chocolatier-Kunst einweihen lassen. Zum Beispiel gemeinsam mit Maître Chocolatier Rolf Hohlfiguren aus flüssiger Schokolade gießen und danach verzieren, im konkreten Fall einen Bären.
Womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären, was denn nun mit überzähligen Weihnachtsmännern oder Hasen geschieht. Dazu sagt eine Unternehmenssprecherin: „Die nicht verkauften Goldhasen werden zum größten Teil an Kinder-, Altenund Behindertenheime gespendet.“Und: Laut dem Bundesverband der Süßwarenindustrie haben Hasenfiguren bei den Produktionszahlen längst sämtliche Weihnachtsmänner abgehängt. Das schokoladige Langohr ist damit die wichtigste Stütze der Branche. Übrigens: In 33 Wochen ist Ostern.
Gut neun Kilo Schokolade im Jahr – pro Kopf
Nicht nur Schweizer revolutionierten den Markt