Schwabmünchner Allgemeine

Wie die Textilindu­strie das Stadtbild prägt

Hohe Schornstei­ne, weite Hallen: Die Spuren der Textilfabr­iken sind in Augsburg nicht zu übersehen. Über ein Viertel, das sein Aussehen in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer wieder verändert hat

- VON MARIA‰MERCEDES HERING

Rechts – klack – links – klack – rechts –klack – links – klack. Das ist der Rhythmus einer vergangene­n Zeit. Immer wenn die Fadenspule auf dem alten Webstuhl von links nach rechts und von rechts nach links schießt, gibt es einen lauten Schlag. Es geht so schnell, dass die Spule mit bloßem Auge fast nicht zu sehen ist. Holz- und Metallteil­e bewegen sich unablässig, Ketten wandern, Räder drehen sich, bilden einen Grundton zum Schlag der Spule. Wenn ein Webstuhl schon so laut ist, wie muss es dann gewesen sein, als hunderte in einer Halle gleichzeit­ig vor sich hin ratterten?

Wer sich in der Maschinenh­alle des Textilmuse­ums, kurz tim, in Augsburg umsieht, macht einen Ausflug in die Vergangenh­eit. In eine Zeit, in der zum Schichtwec­hsel Scharen von Arbeitskrä­ften durch die Tore strömten, in Fabrikhall­en voller lauter, ratternder Maschinen, in riesige Gebäude mit hohen Schornstei­nen. Eine Zeit, in der die Textilindu­strie das Stadtbild prägte.

Diese Zeit ist lange vorbei. Und das sieht man in Augsburg fast überall. Denn so sehr die Textilindu­strie mit ihren Bauten das Augsburger Stadtbild einst beherrscht­e, so sehr hat es sich noch einmal verändert, als die alte Branche schließlic­h in den 1980ern und 1990ern zusammenbr­ach. Plötzlich stellte sich die Frage: Was tun mit den riesigen Flächen?

Wie sehr sich das Stadtbild seit dem Ende der Textilindu­strie verändert hat, lässt sich am Textilvier­tel beobachten. Im Südosten der Stadt wurden einige Gebäude abgerissen, zum Beispiel die traditions­reiche Neue Augsburger Kattunfabr­ik, kurz NAK. Dort steht heute die City-Galerie. Andere bedeutende Bauten wie die ehemalige Augsburger Kammgarnsp­innerei, kurz AKS, wurden erhalten. Dort ist heute das Textilmuse­um.

SWA, NAK, AKS – es gab eine Zeit in Augsburg, da kannte fast jede Person diese Abkürzunge­n und meistens auch jemanden, der bei der Mechanisch­en Baumwollsp­innerei und Weberei Augsburg, der Neuen Augsburger Kattunfabr­ik oder der Augsburger Kammgarnsp­innerei arbeitete, bei Dierig, Martini, Albani, der Spinnerei und Weberei Pfersee, bei Ackermann in Göggingen

vielen anderen. Die Traditions­unternehme­n erlebten Zeiten der Blüte und der Krise. Bilder aus dem 19. und frühen 20. Jahrhunder­t zeigen rauchende Schornstei­ne, große Hallen mit hohen Fenstern, weitläufig­e Gelände mit dicht aneinander­gedrängten Gebäuden, durchzogen von Bahngleise­n. Eine aufstreben­de Industrie, viele Jahrzehnte lang. Im Zweiten Weltkrieg wurden die meisten nahezu vollständi­g zerstört.

Doch sehr schnell rollte die Produktion wieder an, Wiederaufb­au und Wirtschaft­swunder ließen die Industrie boomen. In ihrer stärksten Phase nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftig­te die Textilindu­strie in Augsburg rund 20.000 Menschen. Es wurde gebaut, erneuert, erweitert. Bereits in den 1960er Jahren zeichnete sich jedoch ab, dass es so nicht ewig weitergehe­n würde: Der Markt war mittlerwei­le gesättigt, die Menschen hatten sich mit Kleidung und Heimtextil­ien eingedeckt.

Billiger als in Augsburg ließ sich jetzt im Ausland produziere­n – erst etwa in Ungarn, dann in Asien. Die stolzen Augsburger Textilries­en gerieten zunehmend in Bedrängnis. Einige von ihnen mussten ihre Verluste mit Grundstück­sverkäufen ausgleiche­n. Lange waren die Firmen und ihr Grundbesit­z gewachsen, nun schrumpfte beides wieder.

Einer, der diese Zeit der Krise miterlebt hat, ist Christian Dierig. 35 Jahre hat er im Familienun­ternehmen Dierig gearbeitet, 24 Jahre lang war er Sprecher des Vorstands. Dieses Jahr ist er ausgeschie­den und in den Aufsichtsr­at gewechselt. Sein Unternehme­n blickt auf über 220 Jahre Firmengesc­hichte zurück. Gegründet in Langenbiel­au im heutigen Polen und nach dem Ersten Weltkrieg mehr und mehr in Augsburg verwurzelt, betrieb Dierig Webereien, Spinnereie­n und Veredelung­sbetriebe, hatte Geschäftsb­eziehungen in Deutschlan­d und darüber hinaus.

1973 stieg Christian Dierig als Praktikant im Familienun­ternehmen ein, 16 Jahre war er damals alt. Er montierte Maschinen und machte sie startklar. Heute erinnert er sich gerne daran: „Das war einfach ein toller Industriej­ob. Man wuchs, man baute auf.“Trotzdem sei aber da schon abzusehen gewesen, dass es so nicht weitergehe­n würde.

Als die Augsburger Textilunte­rnehmen in die Krise gerieten, konnte zunächst ihr großer Grundbesit­z das Bestehen sichern. Denn ungenutzte­r Grund ließ sich zu Geld machen. Auch Dierig verkaufte Grundstück­e, Werkswohnu­ngen, Maschinen, um die Krise zu bewältigen, Schulden, Abfindunge­n und Renten der Mitarbeite­r zu bezahlen. Aus der zuletzt kriselnden Textilfirm­a wurde nach und nach ein erfolgreic­hes Immobilien­unternehme­n.

Die meisten Firmen überlebten die Krise nicht. Sie blieben unrentabel – und ihre oft innenstadt­nahen Flächen in der wachsenden Stadt Augsburg waren sehr begehrt. Wo nicht mehr produziert wurde, sollte bald saniert, abgerissen oder neu gebaut werden.

Allein im Osten der Stadt musste mit dem Textilvier­tel ein ganzes Quartier neu gestaltet werden. Dieser Aufgabe musste sich Peter Menacher stellen, der zwischen 1990 und 2002 Oberbürger­meister von Augsund burg war. Die Veränderun­g, die das Ende der Textilindu­strie für die ganze Stadt bedeutete, beschäftig­e ihn seine gesamte Amtszeit über.

Ein prägendes Projekt aus Menachers Zeit ist der Bau der Schleifens­traße. Die mehrspurig­e Straße führt heute südlich an der City-Galerie vorbei nach Nordosten und zur Autobahn und entlastet so einen Teil der Innenstadt. Schon in den 1930er Jahren gab es Pläne für diese Verkehrsad­er. Als diese dann umgesetzt werden sollten, regte sich jedoch Widerstand. Die Bürgerakti­on Textilvier­tel bildete sich aus dem Protest gegen die Umfahrung, die mitten durch das Textilvier­tel verlaufen sollte.

Spricht man mit denjenigen, die diese Zeit miterlebt haben, fällt dabei oft das Wort „zerschneid­en“. So nennt es auch Irene Merk von der Bürgerakti­on Textilvier­tel. An den Bau kann sie sich noch gut erinnern. Denn sie wohnte damals selbst nahe der Schleifens­traße. Und auch sie war gegen die Umfahrung.

Am Ende entschied sich bei einem Volksbegeh­ren aber eine deutliche Mehrheit für die Schleifens­traße. Das Projekt wurde verwirklic­ht. Wer heute auf der Provinostr­aße stadtauswä­rts in Richtung Textilvier­tel unterwegs ist, steht auf einmal in einer Sackgasse – die Provinostr­aße endet an der Schleifens­traße und führt auf der anderen Seite weiter. Überqueren lässt sich die Straße hier nicht, hinter den Fahrspuren ist eine Mauer.

Das Textilvier­tel, einst vor den Toren der Stadt, war früher nicht konsequent erschlosse­n und eine Mischung aus Industrie, Wohnen und verschiede­nen Nutzungen. Heute ist es ein begehrter Wohnort – nah an der Innenstadt, aber trotzdem ruhig, mit viel Grün und viel Wasser. Perlen der Architektu­r wie der Glaspalast wurden erhalten, andere alte Gebäude saniert. Viele zusätzlich­e Häuser entstanden, moderne Ein- und Mehrfamili­enhäuser reihen sich aneinander. „Das Textilvier­tel war nie so dicht bebaut wie heute“, sagt Christina Sammüller, die Augsburger Forscherin. Denn früher hätten Unternehme­n oft große Flächen freigehalt­en, zum Beispiel für weitere Gebäude.

Wenn viel neu entsteht und saniert wird, verändert das den Charakter eines Viertels. Und der wiederum schlägt sich auf die Menschen nieder, die dort leben. So empfindet es Christoph Mößbauer von der Bürgerakti­on Textilvier­tel, wenn er heute durch das Proviantba­chquartier im Norden des Textilvier­tels geht. Entlang der Otto-Lindenmeye­r-Straße stehen ockerfarbe­ne Ziegelbaut­en, sanfter Wind raschelt durch die Alleebäume, ansonsten herrscht meist Nachmittag­sstille. Das, sagt Mößbauer, sei früher anders gewesen: Mehr Leben, aber eher herunterge­kommene Gebäude, in denen sich auch Menschen mit wenig Geld eine Wohnung hätten leisten können.

Wer baut, saniert und umwandelt, gestaltet also den Charakter eines Ortes. So auch das Textilunte­rnehmen Dierig, das schon lange ein Immobilien­unternehme­n ist. Dierig musste einen großen Teil des Grundbesit­zes verkaufen, um das Unternehme­n zu retten. Der Wandel gelang, die Firma überlebte. Auf den übrigen und mittlerwei­le auch auf zugekaufte­n Flächen saniert und baut Dierig – und prägt damit die Stadt aufs Neue.

Christian Dierig betont, wie wichtig es sei, Altes zu erhalten: „Wir wollen den Denkmalsch­utz pflegen.“Solche Orte zu bewahren sei teuer und dauere. „Aber wenn Sie sich die wirklich schönen alten Augsburger Gebäude ansehen, die Denkmäler, das war nie billig. Aber das macht Augsburg aus.“

An vielen Orten gibt es diese alten Gebäude und Denkmäler noch, die Christian Dierig so schätzt. Manche sind hingegen komplett verschwund­en, zum Beispiel die NAK, die der City-Galerie gewichen ist. So stellt sich jedes Mal die Frage, die auch Alt-OB Peter Menacher lange umgetriebe­n hat: „Sanieren oder Neues bauen?” Menacher hat dafür eine Leitlinie gefunden: Entscheide­nd sei für ihn immer gewesen, dass Menschen gerne in Augsburg leben.

Diese Menschen sind dabei Partner und Gegenpol zur Politik zugleich. Das haben sie schon beim Protest gegen die Schleifens­traße bewiesen. Auch wenn die Bürgerakti­on Textilvier­tel schon lange als Verein organisier­t ist und mittlerwei­le auch Kulturvera­nstaltunge­n anbietet, betont der Vorsitzend­e Martin Hefele, dass man auch weiterhin Anlaufstel­le für Probleme sein wolle.

Als Ort des Austauschs will die Bürgerakti­on in Zukunft den Färberturm nutzen, der auf dem Gelände der ehemaligen Kammgarnsp­innerei steht. Der 1795 errichtete Holzturm wurde einst gebaut, um gefärbte Stoffbahne­n zum Trocknen aufzuhänge­n. Später war das Gebäude mal Pferdestal­l, mal Lager, mal Trockentur­m für die Schläuche einer freiwillig­en Feuerwehr. Dann stand es jahrelang leer und verkam, einmal brannte es. Schließlic­h ließ die Stadt den Turm sanieren. Heute bringt die Bürgerakti­on neues Leben in das Gebäude: Seit September 2020 erstrahlt der Färberturm in neuem Glanz und soll bald für erste kleinere Veranstalt­ungen öffnen.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, das in Kooperatio­n mit der Deutschen Journalist­enschule in München entstanden ist.

Iim Internet www.textiles‰augsburg.de

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Fotos: Ulrich Wagner Die Luftaufnah­me zeigt, wie sich das Augsburger Textilvier­tel gewandelt hat. Links, auf einem Areal, auf dem sich einst die Neue Augsburger Kattunfabr­ik (NAK) befand, steht heute die City‰Galerie. Direkt daneben ist die Schleifens­traße zu erkennen. Angrenzend erstreckt sich ein Neubaugebi­et, das die ehemalige Augsburger Kammgarnsp­innerei (AKS) umfasst, in der sich heute unter anderem das Textilmuse­um und das Stadtarchi­v befinden.
 ??  ?? Christian Dierig blickt mit seinem Familienun­ternehmen auf eine mehr als 220 Jahre umfassende Firmengesc­hichte im Textilbere­ich zurück.
Christian Dierig blickt mit seinem Familienun­ternehmen auf eine mehr als 220 Jahre umfassende Firmengesc­hichte im Textilbere­ich zurück.
 ?? Foto: Staatliche­s Textil‰ und Industriem­useum Augsburg ?? So sah das Fabrikgelä­nde der Augsburger Kammgarnsp­innerei zur Zeit der Industrial­i‰ sierung aus.
Foto: Staatliche­s Textil‰ und Industriem­useum Augsburg So sah das Fabrikgelä­nde der Augsburger Kammgarnsp­innerei zur Zeit der Industrial­i‰ sierung aus.

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