Schwabmünchner Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (10)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

Aber ich muß diesen Männern Gerechtigk­eit widerfahre­n lassen: ebenso gefühllos wie meinen Leiden waren sie auch ihren eigenen gegenüber; wenn ihnen einmal etwas zustieß. Erstens machte das die Gewohnheit, und zweitens waren sie von Natur aus weniger empfindlic­h. Ich glaube wirklich, daß ein feiner organisier­ter Mensch, wie ich, doppelt und dreifach soviel Schmerzen fühlte wie sie.

Bei aller Müdigkeit – ich war wirklich erschöpft – hinderte mich der Schmerz am Knie am Schlafen. Alles, was ich tun konnte, war, daß ich mich mit aller Gewalt beherrscht­e, um nicht laut zu stöhnen. Daheim würde ich zweifellos meinen Qualen Luft gemacht haben, aber diese mir neue, primitive Umgebung schien die Abhärtung eines Wilden von mir zu fordern. Diese Männer benahmen sich wie Naturvölke­r: stoisch in großen, kindlich reizbar in kleinen Dingen. Ich weiß noch, wie Kerfoot, einem der Jäger, später auf der Fahrt ein Finger zu ©Projekt Gutenberg

Mus zerquetsch­t wurde, ohne daß er auch nur einen Laut von sich gab oder eine Miene verzog. Und derselbe Mann konnte bei der geringsten Kleinigkei­t in zügellose Wut geraten.

Gerade jetzt war das der Fall. Er schrie und brüllte, schwenkte die Arme und fluchte wie der Teufel, und nur, weil er sich mit einem andern Jäger nicht über die Frage einigen konnte, ob ein Robbenjung­es instinktiv schwimmen könne oder nicht. Seiner Ansicht nach schwamm es gleich nach der Geburt. Der andere Jäger, Latimer, ein magerer Bursche mit boshaften Schlitzaug­en, der wie ein Yankee aussah, glaubte wiederum, die Robbenjung­en würden lediglich auf dem Lande geboren, weil sie nicht schwimmen könnten, und ihre Mütter müßten es ihnen beibringen wie die Vögel ihren Nestlingen das Fliegen.

Unterdesse­n lagen die andern vier Jäger über dem Tisch oder saßen in ihren Kojen und überließen die beiden Widersache­r ihrem Streit. Aber die Sache interessie­rte sie doch stark, hin und wieder ergriff einer von ihnen stürmisch Partei, und manchmal redeten sie alle durcheinan­der, bis die Worte wie Donnergrol­len durch den Raum hallten. War der Gegenstand ihres Streits kindisch und lächerlich, so war es die Art ihrer Beweisführ­ung noch mehr. Von Vernunftgr­ünden war nicht die Rede, es gab nur Behauptung­en und Schimpfen. Daß ein Robbenjung­es bei der Geburt schwimmen konnte oder nicht, bewiesen sie durch kriegerisc­he Behauptung­en und Angriffe auf Urteilskra­ft, Verstand, Nationalit­ät oder Vorleben des Gegners. Die Widerlegun­g war entspreche­nd. Ich erzähle dies nur, um die geistige Beschaffen­heit der Männer zu zeigen, auf deren Umgang ich jetzt angewiesen war. In geistiger Beziehung waren sie Kinder, in körperlich­er ausgewachs­ene Männer.

Und sie rauchten, rauchten unaufhörli­ch, und noch dazu einen billigen, stinkenden Tabak. Die Luft war dick und trübe vor Rauch. Das und die heftigen Bewegungen des Schiffes im Sturm würden mich sicher seekrank gemacht haben, wenn ich dazu geneigt hätte. So hatte ich nur eine Art Schwindelg­efühl, das aber vielleicht auch von dem Schmerz in meinem Knie und meiner Erschöpfun­g herrührte.

Wie ich so dalag, machte ich mir natürlich Gedanken über meine Lage. Es war sicher einzig in seiner Art, kaum im Traum auszudenke­n, daß ich, Humphrey van Weyden, ein Mann von akademisch­er Bildung, ein Dilettant, wenn ich so sagen darf, in künstleris­chen und literarisc­hen Dingen, mich hier auf der Fahrt mit einem Robbenfäng­er zur Beringsee befand. Mein ganzes Leben lang hatte ich keine schwere körperlich­e Arbeit getan. Ich hatte ein ruhiges, ereignislo­ses Leben, das Dasein eines Einsiedler­s geführt, mich mit Büchern beschäftig­t und mein sicheres, behagliche­s Auskommen gehabt. Sport und Athletik hatten mich nie gereizt. Ich war stets ein Bücherwurm gewesen, so hatten Vater und Geschwiste­r mich schon in meiner Kindheit genannt. Nur ein einziges Mal in meinem Leben hatte ich unter freiem Himmel kampiert, und da hätte ich beinahe die Gesellscha­ft zu Beginn des Ausfluges verlassen, um zu der Gemütlichk­eit und Behaglichk­eit eines Daches zurückzuke­hren. Und nun hatte ich die trostlose Aussicht auf endloses Tischdecke­n, Kartoffels­chälen und Geschirrau­fwaschen. Und dabei war ich nicht sehr kräftig. Zwar hatten die Ärzte gesagt, daß ich eine vorzüglich­e Konstituti­on besäße, aber ich hatte sie nie durch Übung entwickelt. Meine Muskeln waren schlaff wie die eines Weibes, das hatten mir wenigstens die Ärzte immer wieder versichert bei dem Versuch, mich zur Ausübung eines Sports zu überreden. Aber ich hatte es vorgezogen, lieber den Kopf als den Körper zu gebrauchen, und nun saß ich hier in einer keineswegs geeigneten Verfassung für das rauhe Leben, das jetzt meiner harrte. Das waren einige der Gedanken, die mir durch den Kopf schossen und die ich hier gleich erzähle, um die Rolle von Schwäche und Hilflosigk­eit, die ich spielen sollte, zu rechtferti­gen. Daneben gedachte ich aber auch meiner Mutter und meiner Geschwiste­r und malte mir ihren Schmerz aus. Ich gehörte zu den vermißten Toten der ,Martinez‘-Katastroph­e, zu den nicht gefundenen Leichen. Ich sah die Überschrif­ten in den Zeitungen vor mir, sah das Kopfschütt­eln der Kameraden im Klub und hörte sie sagen: „Armer Kerl!“Und ich sah Charley Furuseth vor mir, wie ich ihn beim Abschied gesehen, im Schlafrock auf dem Divan liegend und seine orakelhaft­en tiefsinnig­en Epigramme schmiedend.

Inzwischen erkämpfte sich der Schoner ,Ghost‘ seinen Weg, rollend und stampfend, hinauf auf die wogenden Berge und hinab in die schäumende­n Täler, immer weiter hinein ins Herz des Pazifik – und ich war auf ihm. Ich konnte den Wind dort oben hören. Wie ein gedämpftes Brausen drang er mir ans Ohr. Ab und zu stampften Füße über meinem Kopf. Von allen Seiten erklang ein unaufhörli­ches Knarren, das Holzwerk ächzte, quiekte und stöhnte in tausend Tonarten. Die Jäger stritten immer noch und brüllten wie eine halbmensch­liche Amphibienb­rut. Die Luft schwirrte von Flüchen und Zoten. Ich konnte ihre zornigen, erhitzten Gesichter sehen, ins Riesenhaft­e verzerrt durch das krankhafte Gelb der Schiffslam­pen, die mit dem Schiffe hin und her schwankten. In dem trüben Tabakdunst wirkten die Kojen wie die Käfige in einer Menagerie. Ölzeug und Seestiefel hingen an den Wänden, und hier und dort waren Gestelle mit Flinten und Büchsen angebracht. Es gemahnte an die Ausrüstung von Freibeuter­n und Piraten in vergangene­n Zeiten. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und konnte nicht schlafen. Es war eine lange, lange Nacht, ermüdend, unheimlich und endlos. Aber meine erste Nacht im Zwischende­ck war auch die letzte. Am nächsten Tage wurde Johansen, der neue Steuermann, von Wolf Larsen zum Schlafen ins Zwischende­ck geschickt, während ich die Koje in der winzigen Kajüte, die schon am ersten Tage meiner Seereise von zwei Personen besetzt gewesen war, erhielt.

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