Schwabmünchner Allgemeine

Warum wir das Authentisc­he suchen

Alte Kirchen, Tempel und Baudenkmäl­er stehen auf dem Programm vieler Reisender. Wieso eigentlich? Ein Historiker erklärt, warum hinter Kulturtour­ismus nicht unbedingt das Interesse an Geschichte steckt

- Interview: Philipp Laage, dpa

Welches Bedürfnis steckt hinter dem Vorhaben, sich einen alten, historisch bedeutsame­n Ort anzuschaue­n?

Valentin Groebner: Ich glaube, dass die Leute aus ganz unterschie­dlichen Gründen in die Ferien fahren. Der häufigste lautet: Es ist ein Ritual, das den eigenen Jahresabla­uf strukturie­rt. Und dabei zeigen wir uns selber, wer wir wirklich sein möchten. Davon machen wir dann Bilder und schicken sie an unsere Liebsten.

Liegt es nicht auch daran, dass uns Reiseführe­r und andere Institutio­nen den Eindruck vermitteln: Da muss man mal gewesen sein?

Groebner:

Kommt auf den Ort und das Programm an, ich würde das nicht verallgeme­inern. Aber grundsätzl­ich folgen wir in unserem Urlaubsrit­ual bestimmten Drehbücher­n, und so schrecklic­h individuel­l sind die nicht, jedenfalls nicht bei mir. Wir fahren alle zur selben Zeit mit sehr ähnlichen Wünschen los, und wir haben dabei nicht viel Zeit. Das heißt, wir müssen uns auf das richtig Wichtige konzentrie­ren, auf die Highlights, auf die ganz besonders tollen Orte, die man eben gesehen haben muss. Und dort treffen wir dann all die anderen Reisenden. Dieses Auswählen hat eine Vorgeschic­hte, die in die Wirtschaft­swunderjah­re, ins 19. Jahrhunder­t oder manchmal sogar noch weiter zurückreic­ht – zu Goethe, zur GrandTour, der Bildungsre­ise der frühen Neuzeit. Auch damals hieß es schon: Das muss man gesehen haben, wenn man dort ist.

Was braucht es, damit ein Tourist einen historisch­en Ort angemessen würdigen kann? Welches Vorwissen ist nötig?

Groebner: Es gibt viele historisch­e Orte, die nicht besucht werden, weil sie zu abgelegen sind oder zu komplizier­t zu erreichen. Die bleiben sozusagen mit ihrer Authentizi­tät allein. Damit wir einen Ort als historisch erleben können, braucht es eine ganze Menge moderne Infrastruk­tur, und die muss jetzt, im 21. Jahrhunder­t, funktionie­ren, sonst kommt dort keiner hin. Ich meine damit nicht nur Straßen, Parkplätze und Hinweissch­ilder, sondern auch ein Narrativ, eine Gebrauchsa­nweisung für den Ort. Denn die Vergangenh­eit selbst kann man nicht sehen, die ist weg. Was wir sehen, sind Überreste. Und die müssen eben ausgeschil­dert und erklärt werden.

Gibt es überhaupt noch authentisc­he Orte auf Reisen?

Groebner: Natürlich. An Authentizi­tät herrscht kein Mangel, sie steckt bloß woanders, als wir denken. Das Wort authentis kommt aus dem Griechisch­en und bedeutet eigenhändi­g – ursprüngli­ch ging es da um Gewaltverb­rechen. Authentisc­h im Sinne von „echt“wird ab dem 13. Jahrhunder­t für Reliquien verwendet. „Authentica“waren die von der Kirche vorgeschri­ebenen Bescheinig­ungen, dass es sich um den echten Knochen einer echten Heiligen handelte. Aus der Reliquienv­erehrung ist das Wort im modernen Sprachgebr­auch dann zur Chiffre für Echtheit geworden. Denn wie die Reliquie hat auch das Authentisc­he immer mit Vervielfäl­tigung zu tun. Etwas muss kopiert werden können, damit es überhaupt als authentisc­h bezeichnet werden kann.

Wann begann denn die Inszenieru­ng des Authentisc­hen für Besucher, Reisende und noch später Touristen heutiger Art?

Groebner: Ich bin Mittelalte­r-Historiker, das prägt natürlich meinen Blick: Ab dem 13. Jahrhunder­t wurde mitten in Europa an vielen Stellen zuerst das Grab Jesu nachgebaut und als Angebot für fromme Pilger vermarktet, dann immer größere Schauplätz­e aus der Bibel – ganz nach dem Motto: Ihr müsst nicht die Reise über das Meer nach Jerusalem machen, ihr könnt das alles auch ganz in der Nähe besuchen. Diese „sacri monti“, heiligen Berge, werden gegen Ende des 15. Jahrhunder­ts zuerst in Norditalie­n errichtet und waren damals ein riesiger Erfolg, religiöse Erlebnispa­rks. Dort konnte man biblische Geschichte live und dreidimens­ional mit lebensgroß­en Figuren erleben, zum Anfassen.

Dazu gab es auch passende Unterkünft­e. Das Ganze war gewisserma­ßen die erste Pauschalre­ise in die Vergangenh­eit und immer mit der Garantie: So gut wie das Original, eben authentisc­h.

Hat sich an diesem Prinzip etwas geändert?

Groebner: Wir wollen bis heute im Urlaub das Echte erleben, und das soll uns zu entspannte­ren, gebildeter­en, toleranter­en Menschen machen. Das Element der Pilgerfahr­t – Veränderun­g durch die Reise an einen bestimmten Ort – ist nie ganz verloren gegangen. Nur wollen wir heute noch Wellness und WLAN dazu.

Das Verspreche­n von authentisc­hen Orten durchzieht den gesamten Tourismus. Warum wird damit so sehr geworben?

Groebner: Weil wir gute theatralis­che Aufführung­en einfach gerne mögen. Tourismus ist eine Fiktion; eine, von der alle wissen, dass es eine Fiktion ist, die aber echte Strukturen erzeugt: eine milliarden­schwere Dienstleis­tungsbranc­he. Es brauchte ja erst einmal die Industrial­isierung und die Eisenbahn, damit die Menschen in eine angeblich ursprüngli­che Natur zurückwoll­ten.

Geht es um die Suche nach einem bestimmten Gefühl?

Groebner: Das Blöde an Gefühlen ist, dass sie schnell wieder weg sind. Das heißt, diese Gefühle müssen fixiert werden. Am besten geht das, wenn wir die Gefühle schon von anderen kennen und reproduzie­ren können. Deswegen findet Urlaub meistens in Wiederholu­ngsschleif­en statt. Man kann das an der schönen Stadt Luzern zeigen, in der ich wohne: Hier besichtige­n die Menschen genau dasselbe wie bei der Erfindung des Tourismus vor 170 Jahren.

Warum haben schon die Reisenden vor 100 Jahren geglaubt, dass die Welt eigentlich früher viel schöner war?

Groebner: Weil es das Erlebnis verstärkt. Wenn ich glaube, dass ich (fast) der Letzte bin, der etwas sieht, dann ist der Eindruck auf mich besonders stark. Der Untergang von Venedig zum Beispiel wird seit der Mitte des 19. Jahrhunder­ts angekündig­t, als John Ruskin sein großes Buch „The Stones of Venice“herausbrac­hte. Bei Ruskin war es noch die drohende Besetzung durch die habsburgis­che Armee, die Venedig untergehen lassen würde. Heute sind es der Klimawande­l, die Kreuzfahrt­schiffe und die Touristens­tröme. „Besichtige­n Sie Venedig, solange es noch da ist“: Dieser Slogan ist tatsächlic­h sehr alt. Er funktionie­rt aber nach wie vor. Mich als Historiker macht das auf ironische Weise durchaus optimistis­ch.

Passt dazu der häufig artikulier­te Eindruck, dass auch im eigenen Leben früher das meiste besser war?

Groebner: Was ist denn Urlaub anderes als ein Verspreche­n auf wieder gegebene Zeit? Ich bekomme etwas wieder, was mir abhandenge­kommen ist, nicht nur angeblich ursprüngli­che Alpen und unberührte Strände, sondern meine eigene Lebenszeit, die ich mit Unlust im Büro verbracht habe. Urlaub ist Reparatur. Vor dem Ersten Weltkrieg war das ein Privileg der reichen Leute. Dann machten erst die italienisc­hen und dann die deutschen Faschisten Ferien für alle zum politische­n Slogan. Seitdem ist der Urlaub eine Art nationales Vorrecht. Nur ist die Vorstellun­g, dass Urlaub einem etwas zurückbrin­gt, das man früher gehabt hat, ein Wunschbild. Man kriegt nichts zurück, weil die Vergangenh­eit ja einfach vergangen ist.

Warum suchen wir das Authentisc­he in der Regel in der Vergangenh­eit und nicht in der Gegenwart?

Groebner: Weil wir Kulturpess­imisten sind – das schöne Echte ist im Zweifelsfa­ll eben das von früher, das immer weniger wird. Das ist aber ein Klischee, und die Wirklichke­it ist komplizier­ter. Schon im 19. Jahrhunder­t besichtigt­en Touristen auch moderne Gebäude, wenn die nur außergewöh­nlich genug waren. Und heute lässt sich ein Ort durch einen spektakulä­ren Neubau sehr wohl zum Touristenz­iel machen. Der Mittelalte­r‰Experte Valentin Groe‰ bner aus Luzern hat sich ausgiebig mit dem Phänomen Geschichts­tourismus befasst. Sein Buch dazu: „Retroland – Geschichts­tourismus und die Sehn‰ sucht nach dem Authentisc­hen“(S. Fi‰ scher, 224 S., 20 ¤).

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