Schwabmünchner Allgemeine

Beschimpfu­ng des Mondes

Christa Wißkirchen Gedichte mit überrasche­nden Perspektiv­en

- VON MATHIAS MAYER

Dass Gedichte dazu da sein können, die Augen zu öffnen und den Blick zu schärfen, lässt sich an der Sammlung der in Augsburg wohnhaften Schriftste­llerin Christa Wißkirchen erkennen. In einem ansprechen­d gestaltete­n Band sind Texte aus vierzig Jahren versammelt, die immer wieder durch überrasche­nde und ungewohnte Sichtweise­n herausford­ern.

Wo es vielfach um die Wahrnehmun­g der Natur geht, um Granit, den Winter oder eine Muschel, herrscht der Duktus eines sachlichen Sagens vor, kommt keine Sentimenta­lität, keine romantisch­e Stimmung auf, dafür aber eine neue Perspektiv­e. Auch der Mond wird einer „Trabantenb­eschimpfun­g“unterzogen, als „das Andere aller Ausleuchtu­ngs-Effizienz“. Diese scharfsinn­ige, manchmal das Spröde nicht scheuende Lyrik hat sich der Genauigkei­t verpflicht­et.

So wird das Staunen über das leicht Übersehene zu einer Schule exakter Aufmerksam­keit – wobei oftmals der Blick auf den Menschen im Spiegel des Tieres fällt: „Wie wenig Geborgenhe­it / brauchen die Krähen“, heißt es über ihren Platz „auf winddurchb­lasenen / Parallelog­rammen aus Eisen“. Die sprachlich­en Mittel, die hier zum Einsatz kommen, verdanken sich weniger dem Haushalt „lyrischer“Formen oder einer festen Metrik. Es sind eher Effekte rhythmisch­er Gestaltung, aber auch einer unprätenti­ösen Verwendung von Fremdwörte­rn und Einsprengs­eln unterschie­dlicher Herkunft, wenn vom „drive“der Sandkörner auf der Düne die Rede ist oder mit Ernst-Jandl-Ton experiment­iert wird: „arm deutsch putz bei reich türk“als „dienst leister ballade“. So werden auch Momente der Tradition ironisch gespiegelt, von Petrarca über Kleists Bären-Anekdote aus dem Marionette­n-Essay bis zum „Mönch am Meer“von Caspar David Friedrich.

Das besonders Starke an diesen Gedichten dürfte sein, dass sich darin nichts wiederholt, jedes Gedicht in seiner Bedeutsamk­eit für sich steht. Es zeigt sich – und was mehr kann Lyrik sein? – ein eigener Ton, der immer wieder erkennbar ist, und doch gelingt von Fall zu Fall die Überraschu­ng. Nichts Erwartbare­s stellt sich ein; Lyrik als Entdeckung­sreise. Einen vielleicht etwas attraktive­ren Titel aber hätte man dem Band gewünscht.

Da ein einziges Beispiel für viele hier genügen muss, sei ein kurzes Gedicht in zwei Strophen herausgegr­iffen, das doch gleichzeit­ig mehrere Aspekte der Sammlung vertreten kann – auch das Nicht-Selbstvers­tändliche, indem ein Aspekt der Sprache selbst zum Gegenstand gewählt wird. Was zunächst wie ein eher kritisches Protokoll des sonst unbedachte­n Alltags erscheinen könnte, als ironische Spiegelung gegenseiti­ger Ernüchteru­ng, wendet sich in der zweiten Strophe in eine andere Ebene, in der auch Momente der Klage im doppelten „Ach“sowie eine Anrufung ins Spiel kommen. Das Gedicht heißt „GenitivEtü­de“: „Er ihrer überdrüssi­g / Sie seiner eingedenk / Er ihrer bedürftig / Sie seiner müde. // Ach deiner gewiss sein / Ach meiner mächtig / Wie deiner entraten / Erbarm dich / unser“.

» Christa Wißkirchen: Ende der Aus‰ baustrecke. Gesammelte Gedichte 1980 bis 2020. Books on Demand, 188 Seiten, 17,90 Euro.

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