Beschimpfung des Mondes
Christa Wißkirchen Gedichte mit überraschenden Perspektiven
Dass Gedichte dazu da sein können, die Augen zu öffnen und den Blick zu schärfen, lässt sich an der Sammlung der in Augsburg wohnhaften Schriftstellerin Christa Wißkirchen erkennen. In einem ansprechend gestalteten Band sind Texte aus vierzig Jahren versammelt, die immer wieder durch überraschende und ungewohnte Sichtweisen herausfordern.
Wo es vielfach um die Wahrnehmung der Natur geht, um Granit, den Winter oder eine Muschel, herrscht der Duktus eines sachlichen Sagens vor, kommt keine Sentimentalität, keine romantische Stimmung auf, dafür aber eine neue Perspektive. Auch der Mond wird einer „Trabantenbeschimpfung“unterzogen, als „das Andere aller Ausleuchtungs-Effizienz“. Diese scharfsinnige, manchmal das Spröde nicht scheuende Lyrik hat sich der Genauigkeit verpflichtet.
So wird das Staunen über das leicht Übersehene zu einer Schule exakter Aufmerksamkeit – wobei oftmals der Blick auf den Menschen im Spiegel des Tieres fällt: „Wie wenig Geborgenheit / brauchen die Krähen“, heißt es über ihren Platz „auf winddurchblasenen / Parallelogrammen aus Eisen“. Die sprachlichen Mittel, die hier zum Einsatz kommen, verdanken sich weniger dem Haushalt „lyrischer“Formen oder einer festen Metrik. Es sind eher Effekte rhythmischer Gestaltung, aber auch einer unprätentiösen Verwendung von Fremdwörtern und Einsprengseln unterschiedlicher Herkunft, wenn vom „drive“der Sandkörner auf der Düne die Rede ist oder mit Ernst-Jandl-Ton experimentiert wird: „arm deutsch putz bei reich türk“als „dienst leister ballade“. So werden auch Momente der Tradition ironisch gespiegelt, von Petrarca über Kleists Bären-Anekdote aus dem Marionetten-Essay bis zum „Mönch am Meer“von Caspar David Friedrich.
Das besonders Starke an diesen Gedichten dürfte sein, dass sich darin nichts wiederholt, jedes Gedicht in seiner Bedeutsamkeit für sich steht. Es zeigt sich – und was mehr kann Lyrik sein? – ein eigener Ton, der immer wieder erkennbar ist, und doch gelingt von Fall zu Fall die Überraschung. Nichts Erwartbares stellt sich ein; Lyrik als Entdeckungsreise. Einen vielleicht etwas attraktiveren Titel aber hätte man dem Band gewünscht.
Da ein einziges Beispiel für viele hier genügen muss, sei ein kurzes Gedicht in zwei Strophen herausgegriffen, das doch gleichzeitig mehrere Aspekte der Sammlung vertreten kann – auch das Nicht-Selbstverständliche, indem ein Aspekt der Sprache selbst zum Gegenstand gewählt wird. Was zunächst wie ein eher kritisches Protokoll des sonst unbedachten Alltags erscheinen könnte, als ironische Spiegelung gegenseitiger Ernüchterung, wendet sich in der zweiten Strophe in eine andere Ebene, in der auch Momente der Klage im doppelten „Ach“sowie eine Anrufung ins Spiel kommen. Das Gedicht heißt „GenitivEtüde“: „Er ihrer überdrüssig / Sie seiner eingedenk / Er ihrer bedürftig / Sie seiner müde. // Ach deiner gewiss sein / Ach meiner mächtig / Wie deiner entraten / Erbarm dich / unser“.
» Christa Wißkirchen: Ende der Aus baustrecke. Gesammelte Gedichte 1980 bis 2020. Books on Demand, 188 Seiten, 17,90 Euro.