Jack London: Der Seewolf (35)
Er war ein schönes Geschöpf und wirkte beinahe weiblich durch die angenehmen Linien seiner Gestalt, Sanftmut und Verträumtheit lagen in seinen großen Augen, die seinen wohlverdienten Ruf für Streit- und Rauflust Lügen zu strafen schienen.
„Wie ist er entwischt?“fragte Johnson.
Er saß auf dem Rande seiner Koje, seine ganze Stellung drückte äußerste Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit aus. Er atmete noch schwer von der Anstrengung. Das Hemd war ihm im Kampfe völlig vom Leibe gerissen, und das Blut troff ihm aus einer klaffenden Wunde in der Backe auf die nackte Brust herab, zeichnete eine rote Bahn auf seinem weißen Schenkel und tropfte auf den Boden.
„Weil er der Teufel selber ist, wie ich immer gesagt habe“, meinte Leach, dann sprang er, wütend über die Enttäuschung und mit Tränen in den Augen, auf.
„Und nicht einer von euch konnte
ein Messer bringen!“klagte er immer wieder.
Aber die andern hatten große Furcht vor den zu erwartenden Folgen und achteten nicht auf ihn.
„Wie kann er wissen, wer’s war?“fragte Kelly und sah sich mit einem blutgierigen Blick um, „es sei denn, daß einer von euch aus der Schule schwatzte.“
„Er braucht euch ja nur anzusehen“, entgegnete Parsons, „ein Blick genügt ihm.“
„Erzähl’ ihm, daß das Deck hochprellte und dir die Zähne aus dem Maule schlug’“, grinste Louis. Er war der einzige, der nicht aus seiner Koje herausgekommen war, und er freute sich, weil er keine Wunden hatte, die verraten konnten, daß er bei dieser Nachtarbeit beteiligt gewesen. „Wartet nur, bis er eure Fratzen morgen gesehn hat“, gluckste er.
„Wir sagen, daß wir ihn für den Steuermann hielten“, meinte einer. Und ein andrer: „Ich weiß, was ich sagen werde: daß ich Lärm hörte, aus der Koje sprang, zum Dank für meine Mühe eins aufs Maul kriegte und so in die Geschichte hineingezerrt wurde. Ich konnte nicht sehen, was und wer es war, und schlug um mich.“„Und da hast du mich natürlich getroffen“, fiel Kelly ein, und sein Gesicht hellte sich einen Augenblick auf. Leach und Johnson beteiligten sich nicht an der Unterhaltung, es war klar, daß ihre Kameraden sie als Leute ansahen, für die das Schlimmste unvermeidlich, ja, deren Lage ganz hoffnungslos war, und die bereits als tot zu betrachten waren. Eine Weile hörte Leach ihre Befürchtungen und Vorwürfe mit an. Dann aber brach er los:
„Ihr langweilt mich! Schöne Genossen seid ihr! Wenn ihr etwas weniger geschwatzt und etwas mehr getan hättet, dann wäre es jetzt geschafft. Warum konnte mir nicht einer, nur ein einziger, ein Messer geben, als ich danach rief? Jetzt jammert und klagt ihr, als ob er euch totschlagen würde, wenn er euch erwischte! Ihr wißt verdammt gut, daß er das nicht tun wird. Er kann es gar nicht. Hier gibt es keinen Heuerbas, und er braucht euch bei seinem Geschäft, ihr seid ihm unentbehrlich. Wer sollte pullen und steuern und Segel setzen, wenn er euch verlöre? Ich und Johnson werden die Suppe auszulöffeln haben. Jetzt geht in eure Kojen und haltet den Mund, ich möchte ein bißchen schlafen.“
„Das ist schon richtig, ganz richtig“, meinte Parsons. „Mag sein, daß er uns nichts tut, aber denkt an meine Worte: Von heute an wird dieses Schiff ein Zuchthaus sein.“
Die ganze Zeit war ich mir über meine eigene schwierige Lage klar gewesen. Was geschah, wenn die Leute meine Gegenwart entdeckten? Ich konnte mich nicht durchschlagen wie Wolf Larsen. Und in diesem Augenblick rief Latimer durch die Luke herab: „Hump! Der Alte braucht dich!“„Hier ist er nicht!“rief Parsons zurück.
„Doch, er ist hier!“sagte ich und bemühte mich, meine Stimme fest erklingen zu lassen.
Die Matrosen blickten mich bestürzt an. Starke Furcht prägte sich auf ihren Zügen aus, und daneben die Folge der Furcht: Teufelei.
„Ich komme!“rief ich Latimer zu.
„Nein, das wirst du nicht!“rief Kelly und trat zwischen mich und die Treppe, während seine Rechte sich in eine Klaue verwandelte, die bereit war, mich zu erwürgen. „Du verdammter kleiner Duckmäuser! Ich werde dir das Maul stopfen.“„Laß ihn gehen!“befahl Leach. „Nein, und wenn es das Leben gälte“, lautete die zornige Erwiderung.
Leach blieb unverändert auf dem Rande seiner Koje sitzen. „Laß ihn gehen, sage ich!“wiederholte er; aber diesmal war seine Stimme kernig und metallisch.
Der Ire schwankte. Ich machte Miene, vorbeizuschreiten, und er trat beiseite. Als ich die Treppe erreicht hatte, wandte ich mich gegen diesen Kreis brutaler und bösartiger Gesichter, die mich im Halbdunkel anstarrten. Ein plötzliches tiefes Mitgefühl wallte in mir auf. Ich erinnerte mich der Anschauung des Cockney: Wie mußte Gott sie hassen, daß sie so gepeinigt wurden!
„Ich habe nichts gesehen oder gehört, glaubt mir!“sagte ich ruhig.
„Ich sage euch, es ist in Ordnung“, hörte ich Leachs Stimme, als ich die Treppe hinaufstieg. „Er liebt den Alten nicht mehr als ihr und ich.“
Ich fand Wolf Larsen in der Kajüte, entkleidet und blutig. Er wartete auf mich und begrüßte mich mit seinem seltsamen Lächeln.
„Kommen Sie und machen Sie sich an die Arbeit, Doktor. Sie scheinen die besten Aussichten für eine ausgedehnte Praxis auf dieser Reise zu haben. Ich weiß nicht, was ohne Sie aus der ,Ghost‘ geworden wäre, und wenn ich sogenannter edler Gefühle fähig wäre, würde ich Ihnen versichern, daß Ihr Kapitän Ihnen außerordentlich dankbar sei.“
Ich kannte den einfachen Arzneikasten der ,Ghost‘ und während ich Wasser auf dem Kajütofen wärmte und alles für die Behandlung der Wunden Nötige bereitmachte, ging er lachend und plaudernd auf und ab und betrachtete prüfend seine Verletzungen. Ich hatte ihn noch nie entblößt gesehen, und der Anblick seines Körpers benahm mir fast den Atem. Es war nie meine Schwäche gewesen, das Fleisch zu sehr zu preisen – weit entfernt. Aber es steckte genug von einem Künstler in mir, um seine Wunderwerke anzuerkennen.
Ich muß gestehen, daß die vollkommenen Linien von Wolf Larsens Gestalt und das, was ich ihre furchtbare Schönheit nennen möchte, mich faszinierten. Ich hatte die Männer im Vorderkastell beobachtet. So kräftige Muskeln auch einige von ihnen hatten, irgend etwas stimmte nie: eine ungenügende Entwicklung hier, eine zu starke dort, eine Biegung oder Krümmung, die die Symmetrie störte, zu kurze oder zu lange Beine, zuviel oder zuwenig hervortretende Knochen. OoftyOofty war der einzige, dessen Linien wirklich ansprechend waren, aber er wirkte zu weiblich.
Wolf Larsen hingegen war der Mann in seiner Vollkommenheit, beinahe ein Gott.
»36. Fortsetzung folgt