Schwabmünchner Allgemeine

Wie entsteht eigentlich eine Koalition?

Erst beschnuppe­rn sich die Parteien, dann beginnt das große Taktieren – und irgendwann mischen auch die ersten Lobbyisten mit. Koalitions­verhandlun­gen folgen immer wieder dem gleichen Muster. Vertrauen ist dabei der Anfang von allem

- VON RUDI WAIS

Berlin Die Organisato­ren hatten auf jedes Detail geachtet. Auf den Tischen der Unterhändl­er lagen kleine Tafeln mit Tigerenten-Schokolade neben schwarz-gelb verpackten Nüssen – und zum Abendessen wurde gelbes Gemüse mit schwarzer Soße serviert. Die Verhandlun­gen über eine schwarz-gelbe Koalition nach der Bundestags­wahl 2009 waren perfekt inszeniert, nach vier Jahren aber war der Zauber vorbei und die FDP in der außerparla­mentarisch­en Opposition. Was sie im Koalitions­vertrag vereinbart hatte, nämlich Steuersenk­ungen auf breiter Front, konnte sie eine Wahlperiod­e lang nicht einlösen.

Wie aber entsteht ein solcher Vertrag – und wie formiert sich eine Koalition eigentlich? Einen festen Ablauf dafür gibt es nicht, allerdings folgen die Verhandlun­gen zwischen potenziell­en Regierungs­partnern seit vielen Jahren dem immer gleichen Schema. Das gilt trotz der neuen, ungewohnte­n Konstellat­ion auch in diesen Nachwahl-Wochen.

● Die Vor‰Sondierung­en Sie haben im Prinzip schon am Wahlabend begonnen, als FDP-Chef Christian Lindner und der CDU-Vorsitzend­e Armin Laschet kurz miteinande­r telefonier­t haben. Ähnliche Kontakte, möglicherw­eise eine Etage tiefer, dürfte es da auch schon zwischen den anderen Parteien gegeben haben. Das erste Treffen von Liberalen und Grünen am Dienstagab­end fällt ebenfalls in diese Kategorie: Die Anführer der Parteien beschnuppe­rn sich, loten vielleicht schon die eine oder andere Kompromiss­linie aus, werden dabei aber noch nicht konkret, sondern versuchen vor allem eines: Vertrauen aufzubauen. Vor vier Jahren dauerte es einen Monat, bis die Vor-Sondierung­en für ein Jamaika-Bündnis aus Union, Grünen und FDP in die erste Sondierung­srunde mündeten.

● Die Sondierung­en Diesmal beginnt Phase zwei bereits nach wenigen Tagen, nämlich mit den ersten Gesprächen in größerer Runde an diesem Wochenende. Am Sonntag redet die SPD mit den Grünen und der FDP, die Union trifft sich am Abend noch mit den Liberalen und am Dienstag dann mit den Grünen. In den Sondierung­en werden die Teilnehmer konkreter als in Phase eins, sie benennen ihre wichtigste­n Punkte und signalisie­ren gleichzeit­ig, welche Vorhaben des jeweils anderen sie nicht oder nur schwer mit

können. Und natürlich wird hier wie dort nach Kräften taktiert. „Verhandlun­gstechnisc­h nutzen Grüne und FDP nun aus, dass sie jeweils eine Alternativ­e haben“, sagt die Potsdamer Professori­n Uta Herbst, die politische Handlungss­trategien und -taktiken erforscht. Der SPD rät sie daher, eine Neuauflage der Großen Koalition unter umgekehrte­n Vorzeichen noch nicht völlig auszuschli­eßen.

● Die Koalitions­verhandlun­gen Jetzt wird es ernst. Zwei (oder drei) Parteien sind in der Sondierung so weit vorangekom­men, dass sie eine gemeinsame Koalition erstens für erstrebens­wert und zweitens für machbar halten. Nun beginnt ein komplexer Prozess, sowohl programmat­isch wie personell. Eine sogenannte Lenkungsgr­uppe aus den Generalsek­retären, Fraktionsv­orsitzende­n oder Parlamenta­rischen Geschäftsf­ührern muss die Verhandlun­gen in einem Dutzend Arbeitsgru­ppen so steuern, dass am Ende ein Kompromiss steht, den alle unterschre­iben können. Dabei gibt es stets mehr Ideen als Geld, sodass zu Koalitions­verhandlun­gen auch eine Art Kassenstur­z gehört: Was kann die neue Regierung sich leisten und was nicht? In dieser Phase versucht auch eine Armada von Lobbyisten in diskreten Gesprächen mit den Beteiligte­n Einfluss auf die Verhandlun­gen zu nehmen – und das zum Teil auch mit Erfolg. 2009 zum Beitragen spiel legte eine Gesundheit­spolitiker­in der CDU plötzlich einen neuen Reformvors­chlag auf den Tisch, ohne vorher jedoch die Faxkennung des Absenders zu löschen – das Papier stammte nicht von ihr, sondern vom Verband der privaten Krankenkas­sen... Auch die schiere Größe der Runden wird allmählich zum Problem, erst recht bei drei beteiligte­n Partnern: Waren an den Verhandlun­gen 2009 noch etwa 140 Abgeordnet­e und Experten beteiligt, boten Union und SPD bei der letzten Großen Koalition Anfang 2018 bereits mehr als 300 auf.

● Der Koalitions­vertrag Er ist, wenn man so will, die Bibel der neuen Bundesregi­erung – allerdings geht es auch ohne. Als Willy Brandt 1969 Kanzler wurde, hatten Sozialdemo­kraten und Liberale zwar intensiv miteinande­r verhandelt – einen Koalitions­vertrag aber setzten sie nicht auf. Als Maßstab für die gemeinsame Arbeit galt ihnen Brandts erste Regierungs­erklärung, deren Entwurf so lange zwischen den Parteien hin- und hergeschic­kt, ergänzt und umgeschrie­ben wurde, bis beide Seiten damit einverstan­den waren. Heute sind Koalitions­verträge Werke mit Dutzenden von Kapiteln und Unterkapit­eln, in der Regel weit über 100 Seiten dick und mit pathetisch­en Überschrif­ten garniert. Ihren letzten zum Beispiel betitelten Union und SPD mit „Ein neuer Aufbruch für Europa – eine neue Dynamik für Deutschlan­d – ein neuer Zusammenha­lt für unser Land“. Punkte, in denen man sich nicht einigen konnte, werden bewusst diffus gehalten, auch auf die Gefahr hin, dass es später in der Wahlperiod­e deshalb noch einmal knirscht und kracht. Im Koalitions­vertrag ist auch geregelt, welche Partei welche Ressorts besetzt. Über die jeweiligen Minister und Staatssekr­etäre entscheide­n die Koalitions­partner dann autonom.

● Das große Finale Beschlosse­n ist eine Koalition erst, wenn die beteiligte­n Parteien dem Vertrag auch förmlich zugestimmt haben. Je nach Parteistat­ut und Basisbetei­ligung kann das ein Parteitag sein, der dazu einberufen wird, ein Beschluss des Bundesvors­tandes oder ein Mitglieder­votum wie zuletzt bei der SPD. Erst danach kann das neue Kabinett vereidigt werden. Bis die letzte Regierung von Angela Merkel im Frühjahr 2018 stand, vergingen vom Wahltag an gerechnet fast sechs Monate – das ist bislang deutscher Rekord.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Heiter ging es während der Verhandlun­gen über eine Jamaika‰Koalition 2017 lange Zeit zu – ehe sie dann doch platzten. Viele Protagonis­ten von damals sind auch diesmal mit von der Partie. Ausgang ungewiss.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Heiter ging es während der Verhandlun­gen über eine Jamaika‰Koalition 2017 lange Zeit zu – ehe sie dann doch platzten. Viele Protagonis­ten von damals sind auch diesmal mit von der Partie. Ausgang ungewiss.

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