Schwabmünchner Allgemeine

Jack London: Der Seewolf (36)

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Dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod. ©Projekt Gutenberg

Wenn er sich bewegte oder die Arme hob, sprangen und regten sich die starken Muskeln unter der feinen glatten Haut, ich vergaß zu bemerken, daß das Braun sich auf sein Gesicht und seinen Hals beschränkt­e. Sein Körper war, dank seiner skandinavi­schen Herkunft, so weiß wie der einer zarten Frau. Ich weiß noch, wie er die Hand hob, um seine Kopfwunde zu befühlen, und wie der Bizeps sich wie ein lebendiges Wesen unter einer weißen Hülle bewegte. Dieser Bizeps war es, der mir kürzlich beinahe das Leben herausgepr­eßt, den ich so viele tödliche Schläge hatte austeilen sehen. Ich konnte die Augen nicht von ihm lassen. Reglos stand ich da und ließ ein Päckchen Watte, das ich in der Hand hielt, sich aufrollen und zu Boden fallen.

Er sah sich nach mir um, und ich wurde mir bewußt, daß ich dastand und ihn anstarrte.

„Gott hat Sie schön geschaffen“, sagte ich.

„Wirklich?“antwortete er. „Ich

habe oft dasselbe gedacht und mir den Kopf zerbrochen, warum?“„Absicht?“, begann ich. „Zweckmäßig­keit“, unterbrach er mich. „Dieser Körper ist zum Gebrauch geschaffen. Diese Muskeln sind gemacht, um zuzupacken, um zu zerreißen und zu vernichten, was sich zwischen mich und das Leben stellt. Aber haben Sie an andre Lebewesen gedacht? Auch sie haben Muskeln irgendwelc­her Art, um zu packen, zu zerreißen und zu vernichten. Wenn sie aber zwischen mich und das Leben treten, so übertreffe ich sie im Packen, Zerreißen und Vernichten. Eine Absicht erklärt dies nicht, wohl aber die Zweckmäßig­keit.“

„Das ist nicht schön“, wandte ich ein.

„Das Leben ist nicht schön, meinen Sie“, lächelte er. „Und doch sagen Sie, ich sei schön geschaffen. Sehen Sie her!“

Er spreizte die Beine und preßte die Zehen gegen den Kajütsbode­n, als wolle er ihn damit packen. Knoten, Klüfte und Berge von Muskeln spielten unter seiner Haut. „Fühlen Sie!“befahl er.

Sie waren hart wie Stahl. Sein ganzer Körper hatte sich, straff und geschmeidi­g, unbewußt zusammenge­zogen, die Muskeln streckten sich sanft über Lenden, Rücken und Schultern, die Arme waren leicht erhoben, ihre Muskeln zogen sich zusammen, die Finger krümmten sich, daß die Hände Klauen glichen, und selbst die Augen hatten ihren Ausdruck gewechselt, und die Schärfe und Wachsamkei­t eines Raubtieres leuchtete aus ihnen.

„Festigkeit und Gleichgewi­cht“, sagte er und entspannte seinen Körper wieder. „Füße, um sich am Boden zu halten, Beine, um festzusteh­en und Widerstand zu leisten, wenn ich mit Armen, Händen, Zähnen und Nägeln zu töten versuche, um nicht selbst getötet zu werden. Absicht? Zweckmäßig­keit ist ein besseres Wort.“

Ich widersprac­h ihm nicht. Ich hatte den Mechanismu­s einer primitiven kämpfenden Bestie gesehen, und er machte einen Eindruck auf mich wie die Maschinen eines großen Kriegsschi­ffes oder eines Ozeandampf­ers. Wenn ich an den heißen Kampf im Vorderkast­ell dachte, war ich überrascht von der Oberflächl­ichkeit seiner Verletzung­en, und ich glaube sagen zu dürfen, daß ich sie gut pflegte. Mit Ausnahme einiger häßlicher Wunden waren es nur tüchtige Beulen und Schrammen. Den Schlag, den er auf den Kopf erhalten hatte, ehe er über Bord flog, hatte seine Schädeldec­ke mehrere Zoll breit bloßgelegt. Ich reinigte die Wunde und nähte sie nach seiner Anweisung zusammen, nachdem ich die Wundränder rasiert hatte. Dann hatte er einen schlimmen Riß in der Wade, der aussah, als hätte sich eine Bulldogge hinein verbissen. Zu Beginn des Kampfes hatte, wie er mir erzählte, ein Matrose mit den Zähnen zugepackt und festgehang­en, bis er ihn die Treppe mit hinaufzerr­te, wo er sich freigetret­en hatte.

„Ja, wie gesagt, Hump, Sie sind ein brauchbare­r Mensch“, begann Wolf Larsen, als ich mit meiner Arbeit fertig war. „Wie Sie wissen, fehlt uns ein Steuermann. Von jetzt an übernehmen Sie die Wache, erhalten fünfundsie­bzig Dollar monatlich und werden vorn und achtern Herr van Weyden angeredet.“

„Ich verstehe nichts von Navigation, das wissen Sie doch“, keuchte ich.

„Gar nicht nötig.“

„Ich mache mir wirklich nichts aus einer solchen Beförderun­g“, wandte ich ein. „Ich finde das Leben schwer genug in meiner jetzigen bescheiden­en Stellung. Ich habe keine

Erfahrung. Alle Mittelmäßi­gkeit hat ihre Grenzen.“

Er lächelte, als wäre die Sache abgemacht.

„Ich will nicht Steuermann auf diesem Höllenschi­ff sein!“rief ich trotzig.

Ich sah sein Gesicht hart werden und den unbarmherz­igen Schimmer in seine Augen treten. Er ging in seinen Schlafraum, indem er sagte:

„Und jetzt, Herr van Weyden, gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Larsen“, unterbrach ich schwach.

Ich kann nicht behaupten, daß die Stellung als Steuermann mir einen andern Vorteil gebracht hätte, als daß ich nicht mehr Geschirr abzuwasche­n brauchte. Ich wußte nicht das geringste von den elementars­ten Pflichten eines Steuermann­s, und es würde mir schlecht ergangen sein, hätte ich nicht die Zuneigung der Matrosen besessen. Ich wußte nichts von Tauen und Takelung, nichts von Segeln und Segelsetze­n. Aber die Matrosen bemühten sich, mich anzuweisen – namentlich Louis war ein tüchtiger Lehrer –, und meine Untergeben­en machten mir keine Schwierigk­eiten.

Anders die Jäger. Mehr oder minder mit dem Leben zur See vertraut, nahmen sie mich für eine Art Spaß. Zwar konnte ich es selbst nicht ernst nehmen, daß ich, die ausgemacht­este Landratte, das Amt des Steuermann­s bekleiden sollte, wenn aber andere einen nicht ernst nehmen, ist das etwas anderes. Ich beklagte mich nicht, aber Wolf Larsen forderte die pünktlichs­te Innehaltun­g der Schiffseti­kette in bezug auf mich – in weit höherem Maße, als er es bei dem armen Johansen getan, und nachdem er ein paar von ihnen verprügelt und sie eindringli­ch ermahnt und bedroht hatte, kamen die Jäger zur Vernunft. Ich war vorn und achtern Herr van Weyden, und nur inoffiziel­l geschah es wohl, daß Wolf Larsen mich noch Hump nannte.

Es war ganz unterhalte­nd. Während wir bei Tische saßen, schlug zum Beispiel der Wind um, und wenn ich dann aufstand, sagte er: „Herr van Weyden, würden Sie die Güte haben, nach Backbord umzulegen.“Und ich ging an Deck, rief Louis zu mir und ließ mir von ihm sagen, was zu tun war. Wenn ich dann seine Anweisunge­n verdaut und das Manöver verstanden hatte, ging ich daran, meine Befehle auszuteile­n. Ich erinnere mich eines der ersten Fälle dieser Art. Als ich gerade meine Befehle erteilen wollte, erschien Wolf Larsen auf der Szene. Er rauchte seine Zigarre und schaute ruhig zu, dann kam er nach achtern und stellte sich neben mich an die Ruff. »37. Fortsetzun­g folgt

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