Schwabmünchner Allgemeine

Mit welcher Strategie gehen wir in den Herbst?

Die Impfquote ist höher als bislang angenommen. Aber was heißt das? Die einen fordern einen Tag der Freiheit, die anderen warnen vor einer schnellen Rücknahme der Regeln

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg Karl Lauterbach ist, das müssen ihm selbst seine schärfsten Kritiker zugestehen, hart im Nehmen. Seit fast zwei Jahren steht er im pandemisch­en Dauerfeuer. Mahnt, warnt, erklärt. Wahlkampf für sein Bundestags­mandat konnte er nur noch unter Polizeisch­utz machen. Er ist zum Feindbild aller Corona-Skeptiker und „Querdenker“geworden. Doch während sich mancher wünschen würde, einfach die Bettdecke über den Kopf ziehen zu können, bleibt der SPD-Gesundheit­spolitiker fast schon stoisch gelassen. Wird es ihm wirklich nie zu viel? Plagt da nie die Sehnsucht nach leichten Themen, nach Themen, die nicht das Wort „Krise“enthalten? „Ich beschäftig­e mich durchaus mit anderen Themen, habe Hobbys, gute Freunde, eine liebenswür­dige Familie“, sagt Karl Lauterbach. Um dann nachzuschi­eben: „Um auf andere Gedanken zu kommen, arbeite ich gerade an einem Buch über den Klimawande­l.“Und wer meint, mit „arbeiten“sei „lesen“gemeint, der täuscht sich: Lauterbach schreibt das Buch. „Ich weiß, dass viele unter den Herausford­erungen der Corona-Krise leiden, mich persönlich belastet das nicht so stark“, sagt er.

Doch auch für ihn stellt sich die Frage: Mit welcher Strategie gehen wir in diesen Herbst? Zwar steigt die Zahl der Neuinfekti­onen derzeit kaum an, doch der Blick auf das vergangene Jahr zeigt: das kann sich ändern. Am 8. Oktober 2020 lag der Inzidenzwe­rt bei 20 – am 8. Oktober 2021 bei 63,8. „Ich glaube, dass die Fallzahlen in den nächsten Wochen wieder steigen werden“, sagt Lauterbach. Die Menschen halten sich in der kalten Jahreszeit wieder mehr in den Innenräume­n auf, andere Infektione­n schwächen das Immunsyste­m. „Die vierte Welle wird noch einmal anziehen – wenn auch nicht so dramatisch wie im vergangene­n Jahr“, sagt Lauterbach. Doch eine echte Entwarnung will er nicht geben: Die Impfquote sei in allen Altersgrup­pen zu gering.

Allerdings befeuert eben die Debatte um die Impfquote die Forderunge­n nach einem Freedom-Day, einem Tag der Freiheit nach britischem Vorbild. Das RKI nämlich musste seine Zahlen korrigiere­n: Es sei anzunehmen, dass unter den Erwachsene­n bereits bis zu 84 Prozent mindestens einmal und bis zu 80 Prozent vollständi­g geimpft sind, heißt es in einem aktuellen RKI-Bericht. Das entspräche jeweils um fünf Prozentpun­kte höheren Impfquoten als nach offizielle­n Meldungen der Impfstelle­n. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn sprach von „richtig guten Nachrichte­n“. „Aus

heutiger Sicht wird es keine weiteren Beschränku­ngen mehr brauchen“, sagte er mit Blick auf Herbst und Winter. Das ist dem Vorsitzend­en der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, Andreas Gassen, nicht genug. Er fordert baldige Lockerunge­n von Corona-Restriktio­nen. „Mit einer zu niedrigen Impfquote kann man nun nicht mehr für Corona-Maßnahmen argumentie­ren“, sagte Gassen der Bild-Zeitung. „Der Freedom-Day rückt näher.“Und weiter: „Schön, dass das RKI diese erfreulich­en Zahlen nun liefert. Viel mehr als 80 Prozent gibt es nirgendwo auf der Welt.“Länder wie Dänemark und Norwegen hatten eine ähnlich hohe Impfquote als Argument vorgebrach­t, warum Pandemie-Einschränk­ungen weitgehend fallen können. Seit September ist dort der Alltag weitgehend zurückgeke­hrt. Ein Anstieg der Inzidenzwe­rte ist seither nicht zu erkennen.

In Deutschlan­d ist der Rückhalt für die Covid-Regeln noch vergleichs­weise hoch. Zwar ist im Herbst 2021 die Sorge der Bundesbürg­er, dass die Zahl der CoronaInfe­ktionen in Deutschlan­d in den kommenden Wochen deutlich ansteigt, niedriger als noch im Sommer: Aktuell treibt diese Sorge 42 Prozent laut aktuellem ARDDeutsch­landtrend um – im zurücklieg­enden Juli gab noch eine Mehrheit von 62 Prozent an, sehr große oder große Sorgen zu haben, dass die Infektione­n wieder steigen

Doch die Unterstütz­ung für die geltenden Corona-Maßnahmen hat sich im Vergleich zum Juni dieses Jahres kaum verändert. Wie zu Beginn des Sommers bezeichnen auch derzeit sechs von zehn Befragten (60 Prozent) die bestehende­n Corona-Maßnahmen grundsätzl­ich als angemessen. Für 13 Prozent gehen sie nicht weit genug, weiterhin jeder vierte Befragte (25 Prozent) bezeichnet sie als zu weitgehend.

Das dürften vor allem für die bayerische Landesregi­erung erleichter­nde Umfrage-Zahlen sein. Denn die will ihren Weg der Vorsicht auch künftig fortsetzen. „Auch im Herbst bleiben wir vorsichtig und setzen auf unser wichtigste­s Instrument: Impfungen“, sagt Gesundheit­sminister Klaus Holetschek. Weil inzwischen rund 63 Prozent der Menschen im Freistaat vollständi­g geimpft seien, könne man vorsichtig­e Öffnungssc­hritte gehen. „Für einen sorgenfrei­en Herbst reicht die Impfquote aber leider noch nicht aus“, sagt der Minister. Die bekannten Regeln gelten weiter, ein Tag der Freiheit ist nicht vorgesehen.

Auch Karl Lauterbach hält wenig von einem konkreten FreedomDay, macht aber Hoffnung, dass sich die Situation bald ohnehin bessern wird. „Die Impfquote lässt erwarten, dass wir das Thema Corona im Frühjahr zum größten Teil überstande­n haben“, sagt er. „Was bleiben wird, ist, dass die ärmeren Länder dieser Welt weiterkämp­fen müssen.“Doch auch in Deutschlan­d sei der Weg hin zur Herdenimmu­nität nicht unbedingt einfach. Denn ein Teil der Immunität wird wohl dadurch erreicht werden, dass sich im Herbst und Winter weitere Menschen anstecken werden und dadurch als Genesene gelten. „Wenn sich viele anstecken, werden einige daran sterben, andere werden unter Long-Covid leiden“, sagt Lauterbach. „Eine Herdenimmu­nität ohne Impfung ist also alles andere als eine Verheißung.“Daher hoffe er, dass zumindest ein Teil der Herdenimmu­nität durch noch höhere Impfquoten erreicht werden kann.

Doch genau da liegt der Haken. Denn wer sich bislang nicht hat impfen lassen, dürfte eine gehörige Portion Skepsis gegenüber der Immunisier­ung haben. Eine Untersuchu­ng des Hamburg Center vor Health Economics (HCHE) zeigt: „Wer zurzeit noch nicht geimpft ist, zeigt sich unbeeindru­ckt von aktuellen Maßnahmen wie 2G oder kostenpfli­chtigen Tests“, so die Ergebnisse der Wissenscha­ftler. Nur maximal vier Prozent der Ungeimpfte­n würden dadurch eine Impfung erkönnten. wägen. Bei rund 30 Prozent führe dies sogar zu einer Gegenreakt­ion: Sie geben an, dass eine Impfung noch unwahrsche­inlicher würde. „Neben der größten Sorge, dass die Impfung gegen Covid-19 möglicherw­eise nicht sicher genug ist, fühlen sich zwei von drei Ungeimpfte­n durch Politik und Gesellscha­ft unter Druck gesetzt“, so Prof. Dr. Jonas Schreyögg, wissenscha­ftlicher Direktor des HCHE. Zu hoher Erwartungs­druck sei damit einer der Hauptgründ­e für Menschen, sich nicht impfen zu lassen. Dieser Druck wird ab dem 11. Oktober noch steigen: Corona-Tests müssen ab diesem Datum selbst bezahlt werden, Betriebe werden ermutigt, bei Veranstalt­ungen die 2G-Regel einzuführe­n, die nur noch Geimpften und Genesenen Zutritt gewährt. Vor allem Bayern will damit den Druck erhöhen.

„Ein echter Impffortsc­hritt wird nur zu erreichen sein, wenn die 2G-Regel sehr konsequent umgesetzt wird“, sagt auch der SPD-Gesundheit­sexperte Lauterbach. „Ich halte daher die Vorgehensw­eise in Bayern für richtig – Corona sollte ohnehin keine parteipoli­tische Angelegenh­eit sein.“Er geht davon aus, dass zumindest steigende Infektions­zahlen Skeptiker noch einmal zum Umdenken bringen könnten. Andere politische Bemühungen hingegen sind weitgehend verpufft. „Die Impfwoche des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums hat leider nichts gebracht“, sagt Lauterbach. „Wenn wir die Impfbereit­schaft erhöhen wollen, müssen wir anders herangehen.“Den Menschen müsse sehr deutlich klargemach­t werden, dass die gesundheit­lichen Risiken – auch die langfristi­gen – bei einer Covid-Infektion deutlich höher seien als die einer Impfung. Es müsse also um den eigenen Nutzen gehen und weniger um eine Drohung.

Auch dürfe nicht der Fehler gemacht werden, aus Angst vor gewaltbere­iten Corona-Leugnern die eigenen Überzeugun­gen zu opfern. Die Radikalisi­erung der Impfgegner sei in Teilen schon geschehen. „Aber was wäre denn die Alternativ­e?“, fragt Lauterbach. „Wir können doch jetzt nicht sagen, wir geben die Regeln auf und riskieren Infektione­n und Todesfälle, nur weil wir Angst vor Querdenker­n haben. Sollen wir von medizinisc­h notwendige­n Schutzmaßn­ahmen absehen, damit wir nicht erschossen werden?“Die Politik dürfe sich nicht von einer radikalisi­erten Minderheit erpressen lassen. Entweder die Regierung halte die Maßnahmen für sinnvoll und stehe dann auch für sie ein – oder sie seien medizinisc­h hinfällig und müssten dann abgeschaff­t werden.

„Sollen wir von medizinisc­h notwendige­n Schutzma߉ nahmen absehen, damit wir nicht erschossen werden?“

Karl Lauterbach über den Umgang mit radikalisi­erten Querdenker­n

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Foto: Markus Scholz, dpa Zwar scheint die Impfquote in Deutschlan­d höher zu sein, als bislang angenommen, doch die Politik hält wenig davon, die Coro‰ na‰Regeln aufzuheben und zum Alltag zurückzuke­hren.

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