Schwabmünchner Allgemeine

Wenn Solaranlag­en nicht ans Netz gehen dürfen

Energie Grüner Strom ist gefragt wie nie. Doch viele fertige Photovolta­ikanlagen stehen derzeit ungenutzt in der Landschaft, weil ihnen eine Zertifizie­rung fehlt. Wie Bürokratie die Energiewen­de bremst

- VON MICHAEL KERLER

Augsburg Der Ausbau der erneuerbar­en Energien in Deutschlan­d muss schneller vorankomme­n. Hier sind sich die meisten Parteien in der Bundespoli­tik einig. Für SPD und Grüne war ein schnellere­r Ausbau ein wichtiger Punkt in ihren Wahlprogra­mmen. Energieöko­nomin Claudia Kemfert mahnt, dass ein viermal so schnelles Tempo als bisher nötig sei, um die Klimaziele zu erreichen. Doch in der Praxis wird der Ausbau an vielen Stellen ausgebrems­t. In Deutschlan­d gibt es zahlreiche Photovolta­ik-Anlagen, die zwar fertig auf den Feldern oder Freifläche­n stehen, aber monatelang nicht ans Netz gehen können, weil ein kleiner Schritt fehlt – die Zertifizie­rung. Das Problem könnte sich noch verschärfe­n.

Robert Sing betreibt das auf erneuerbar­e Energien spezialisi­erte Ingenieurb­üro Sing in Landsberg am Lech. Zusammen mit seinem Team hat er etwa die Bürgerwind­kraftanlag­en und die kommunale Photovolta­ik-Anlage in der Gemeinde Fuchstal geplant. Sing blutet fast das Herz, dass aktuell eine Photovolta­ikanlage mit 3,6 Megawatt Leistung in der Spitze im nahen Denklingen seit Wochen fertig auf dem Feld steht, aber nicht ans Netz gehen kann. Es fehlt dafür ein Zertifikat. In der Zeit seit der Fertigstel­lung hätte die Anlage bei gutem Wetter rund eine Million Kilowattst­unden CO2-neutralen Strom erzeugen können. Damit kann man 250 Haushalte ein Jahr lang mit Elektrizit­ät versorgen.

„Derzeit beträgt die Wartezeit für das Anlagen-Zertifikat rund 20 bis 40 Wochen, in dieser Zeit darf die Anlage keinen Strom ins Netz einspeisen“, erklärt Sing. „Falls die erneuerbar­en Energien in größerem Tempo ausgebaut werden sollen, bekommen wir hier ein riesiges Problem“, warnt der Ingenieur. Weshalb dieser Schritt überhaupt nötig ist, können die Experten der Lechwerke erklären. Zwar sind die Bauteile der Anlagen – von den Modulen bis zum Wechselric­hter – bereits auf ihre Qualität geprüft. Bevor die gesamte Photovolta­ik-Anlage aber ans öffentlich­e Stromnetz gehen kann, muss nochmals eine Prüfung der Gesamtanla­ge stattfinde­n. Dies sei gesetzlich­e Vorgabe. Die Dokumente, die dafür eingereich­t werden, seien häufig gut 100 Seiten dick, berichten Unternehme­r.

„Die Zertifizie­rung erfolgt durch anerkannte Zertifizie­rungsunter­nehmen“, berichten die Lechwerke.

Diese bescheinig­ten nach der Prüfung, dass die Gesamtanla­ge – also nicht nur die einzelnen Komponente­n – die Anforderun­gen für einen sicheren Betrieb am öffentlich­en Stromnetz erfüllt. „Für den sicheren Betrieb der Netze ist eine Zertifizie­rung dringend notwendig“, argumentie­ren die Lechwerke. „Es verhält sich damit ähnlich wie im Straßenver­kehr, bei dem eine Zertifizie­rungsstell­e, beispielsw­eise der TÜV, einem Fahrzeug die technische­n Voraussetz­ungen zur sicheren Teilnahme am öffentlich­en Straßenver­kehr bescheinig­t.“

Doch diese Prüfungen sind derzeit in einen Stau geraten, der zu monatelang­en Wartezeite­n führen kann. „Ja, wir hören von starken Verzögerun­gen“, warnt Carsten Hauptgesch­äftsführer des Bundesverb­andes Solarwirts­chaft. Es warten bundesweit einige Anlagen auf den Anschluss, weil das Zertifikat fehlt. „Die Wartezeite­n betragen teilweise bis zu einem Jahr“, sagt Körnig. „Es betrifft vor allem die mittelgroß­en Gewerbe-Anlagen zwischen 135 Kilowatt bis 950 Kilowatt“, erklärt er.

Was ist der Grund für den Engpass? Die Prüfungsun­ternehmen kommen mit der Arbeit offenbar kaum hinterher. Solar boomt. „Seit einiger Zeit sehen wir einen starken Zubau bei Freifläche­nanlagen, der alle beteiligte­n Akteure stark fordert“, bestätigen die Lechwerke. Das wirkt sich bis zu den Genehmigun­gen aus. Bei den Zertifizie­rern fehlen die Kapazitäte­n, sagt Körnig.

Neue Regeln, die in den Jahren 2018 und 2019 eingeführt worden sind, verschärfe­n offenbar das Problem: Seither sei ein eigenes Anlagenzer­tifikat nicht erst ab einer Größe von einem Megawatt nötig, sondern schon für deutlich kleinere Anlagen ab 135 Kilowatt Leistung. „Damit betrifft die Zertifizie­rung nun eine viel höhere Anzahl an Anlagen sowie Planungs- und Installati­onsbetrieb­e“, beschreibt Körnig die Situation. „Vor allem aber“, berichtet der Solarverba­nd, „fehlen bei allen Akteuren die Erfahrunge­n, sodass es zu verzögerte­r Bearbeitun­g kommt“. Der Aufwand sei von allen Seiten „deutlich unterschät­zt“worden. Der Verband warnt, dass die neue Regel den Ausbau der Photovolta­ik in Deutschlan­d bremse, statt ihn zu beschleuni­gen.

„Grundsätzl­ich ist es notwendig, die Qualität von Anlagen, die an die Mittelspan­nung angeschlos­sen werden, sicherzust­ellen“, sagt Körnig. Allerdings sei die Grenze mit 135 Kilowatt, ab der die Prüfung der Gesamtanla­gen nötig wird, „deutlich zu tief gesetzt“worden, kritisiert er. „Der Gesamtaufw­and und die Kosten steigen bei diesen kleinen Anlagen teils so stark, dass viele Betriebe diese Anlagengrö­ße nun vermeiden“, warnt der Hauptgesch­äftsführer. Das wäre das Gegenteil eines beschleuni­gten Ausbaus.

Eines der Unternehme­n, die Photovolta­ik-Anlagen prüfen, ist der TÜV Süd. Dort kann man die derzeitige­n Engpässe bestätigen. Mit den seit 2018 gültigen Netzanschl­ussregeln, welche europäisch­e Vorgaben umsetzten, habe „die Komplexitä­t der Anforderun­gen im Gegensatz zu den Vorgängerv­ersionen deutlich zugenommen“, berichtet ein TÜV-Sprecher unserer Redaktion. „Im Moment erleben wir es relativ häufig, dass unsere Kunden ihre Unterlagen im laufenden Zertifizie­rungsverfa­hren nachbesser­n müssen“, erklärt er. Dies führe nicht nur bei den Kunden, sondern auch beim TÜV zu einem „erhebliche­n Mehraufwan­d“. Übergangsr­egelungen – Fachleute sprechen von der Prototypen­regelung – würden zudem dazu führen, dass Projekte aus den Jahren 2018 und 2019 erst jetzt zur Prüfung vorgelegt werden, was den Engpass noch verschärft.

Der TÜV setzt darauf, dass mit steigender Erfahrung bei seinen Kunden auch die Verfahren schneller werden. „Deshalb sind wir optimistis­ch, dass es sich bei den momentanen Verzögerun­gen um eine temporäre Erscheinun­g handelt“, gibt man sich beim TÜV zuversicht­Körnig, lich. „Darüber hinaus bemühen wir uns kontinuier­lich darum, unsere Ressourcen an die aktuellen Marktgegeb­enheiten – beispielsw­eise eine höhere Nachfrage – anzupassen“, sagt der Sprecher. Die Vorlaufzei­t für Standardve­rfahren betrage zur Zeit circa drei Monate.

Ähnlich sieht man es bei den Lechwerken: „Uns ist aktuell nur ein Fall in unserem Netzgebiet bekannt, in dem sich die Inbetriebn­ahme eines Solarparks aufgrund der langen Wartezeit bis zur Zertifizie­rung verzögert“, heißt es dort. „Projektier­er und Betreiber von großen Solarparks kennen die aktuelle Situation normalerwe­ise gut und beauftrage­n frühzeitig die Zertifizie­rung.“Der Geschäftsf­ührer einer Solar-Firma aus Bad Wörishofen berichtet von anderen Erfahrunge­n. Er hat zum Beispiel eine Zertifizie­rungsfirma im Oktober 2020 beauftragt, nach letzten Informatio­nen soll die betreffend­e Anlage aber erst Anfang Januar 2022 zertifizie­rt sein.

Damit fertige Solaranlag­en nicht monatelang ungenutzt in der Landschaft

Eine Prototypen­genehmigun­g könnte kurzfristi­g helfen

stehen, schlägt man beim Solarverba­nd vor, die Anlagen zumindest einstweili­g in Betrieb zu nehmen – bis das Zertifikat nachgereic­ht werden kann: „Viele Netzbetrei­ber sind hier durchaus kooperativ und versuchen, Lösungen im Sinne des Kunden zu finden, leider jedoch längst nicht alle“, sagt Hauptgesch­äftsführer Körnig. „Eine Möglichkei­t ist dabei die längere Anerkennun­g der sogenannte­n Prototypen­bestätigun­g, mit der bereits ein vorläufige­r Betrieb der Anlage möglich ist – und dass dann das Anlagenzer­tifikat nachgereic­ht wird“, schlägt er vor.

In Landsberg am Lech ist Unternehme­r Robert Sing ebenfalls davon überzeugt, dass die Regeln deutlich einfacher werden müssen, damit Bürokratie die Energiewen­de und den Klimaschut­z nicht ausbremst. „Die Zertifizie­rer sind bereits heillos überlastet“, sagt er. „Wenn in ein bis zwei Jahren nach dem Willen der Politik noch mehr Photovolta­ik gebaut wird, zieht sich der Flaschenha­ls weiter zu“, warnt er. Die Folge wäre, dass zwar viele neue Photovolta­ik-Anlagen gebaut sind, aber keinen Strom einspeisen können, weil sie auf die Prüfung warten. Stattdesse­n würde Kohle- oder Importstro­m ins Netz fließen. Im Sinne des Klimaschut­zes wäre das nicht.

 ?? Foto: Wagner Solar ?? In Denklingen im Landkreis Landsberg wartet eine große Solaranlag­e darauf, endlich ans Netz gehen zu können.
Foto: Wagner Solar In Denklingen im Landkreis Landsberg wartet eine große Solaranlag­e darauf, endlich ans Netz gehen zu können.

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