Schwabmünchner Allgemeine

Heile Welt gerät ins Wanken

Vorfälle Im SOS-Kinderdorf in Dießen soll es über Jahre zu schweren Übergriffe­n gekommen sein. Der damalige Leiter sagt: Es sei ihm bewusst gewesen, dass in dem System eine gewisse Gefahr liege

- VON THOMAS WUNDER

Dießen Das SOS-Kinderdorf in Dießen war das Erste seiner Art in Deutschlan­d. Im Frühjahr 1958 zogen die ersten Mädchen und Buben ein. Seither sollen dort Kinder, die aus unterschie­dlichen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern leben können, eine Gemeinscha­ft finden, die ihnen Schutz, Halt und Orientieru­ng bietet. Doch nachdem eine Studie zu dem Ergebnis kommt, dass zwei ehemalige Mitarbeite­rinnen Kindern von Anfang der 2000er Jahre bis 2015 Leid zugefügt haben sollen, ist die heile Kinderdorf-Welt ins Wanken geraten.

Erich Schöpflin hat das Kinderdorf von 2003 bis 2016 geleitet. Wie der 70-Jährige unserer Zeitung sagt, hat er von den Vorwürfen erst erfahren, nachdem diese 2020 bei der Anlaufstel­le für Betreute gemeldet worden waren. Vor gut einem Jahr sei er, der seit 2016 im Ruhestand ist, von dem Psychologe­n und Missbrauch­sexperten Heiner Keupp dazu befragt worden. Keupp hat auch schon den Missbrauch­sskandal im Kloster Ettal aufgearbei­tet und wurde vom SOS-Kinderdorf­verein mit der Untersuchu­ng der Vorfälle in Dießen beauftragt.

Wie bereits berichtet, ist in der Studie von „kindeswohl­gefährdend­en Grenzübers­chreitunge­n“, aber auch von „sexuellem Missbrauch“der ehemaligen Dorfmütter die

Rede. „Es bedrückt mich, dass sich die Kinder nicht an mich gewandt haben“, sagt Erich Schöpflin, der in seiner Zeit als Leiter auf dem Gelände des Kinderdorf­s wohnte. Denn er wollte als Ansprechpa­rtner für die Kinder vor Ort sein. Es sei ihm bewusst gewesen, dass in dem System eine gewisse Gefahr liege. Die Kinderdorf­mutter sei die Autoritäts­person gewesen, auch wenn ihr Erzieherin­nen und weiteres Fachperson­al zur Seite gestanden wären. Jede Dorfmutter habe auch eine Nische,

wo das Familienle­ben stattfinde­t, so Erich Schöpflin. Dort sei es sehr schwer, zu kontrollie­ren.

Das SOS-Kinderdorf AmmerseeLe­ch in Dießen ist heute ein Verbund verschiede­ner Leistungsa­ngebote der Kinder- und Jugendhilf­e mit vielfältig­en Unterstütz­ungsmöglic­hkeiten für Kinder, Jugendlich­e und Familien. Den Kern des Angebots bilden die SOS-Kinderdorf­familien. Die Kinder leben häufig bis zu ihrer Selbststän­digkeit mit ihrer Kinderdorf­mutter oder ihrem

Kinderdorf­vater zusammen, die mit einem Erzieherte­am arbeiten.

Erich Schöpflin bedrückt in erster Linie, dass die etablierte­n Standards und Richtlinie­n in Bezug auf Kinderschu­tz und die Qualität der pädagogisc­hen Arbeit im SOS-Kinderdorf nicht ausgereich­t hätten, um solche Vorfälle zu verhindern. Er hofft, dass Konsequenz­en aus den Vorfällen gezogen werden. Wie berichtet, will der Kinderdorf­verein unter anderem eine neue Stelle für Kinderschu­tz schaffen.

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Foto: Thorsten Jordan Im SOS‰Kinderdorf in Dießen am Ammersee sollen zwei ehemalige Mitarbeite­rinnen von Anfang der 2000er Jahre bis 2015 mehreren Kindern Leid zugefügt haben.

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