Heile Welt gerät ins Wanken
Vorfälle Im SOS-Kinderdorf in Dießen soll es über Jahre zu schweren Übergriffen gekommen sein. Der damalige Leiter sagt: Es sei ihm bewusst gewesen, dass in dem System eine gewisse Gefahr liege
Dießen Das SOS-Kinderdorf in Dießen war das Erste seiner Art in Deutschland. Im Frühjahr 1958 zogen die ersten Mädchen und Buben ein. Seither sollen dort Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr bei ihren Eltern leben können, eine Gemeinschaft finden, die ihnen Schutz, Halt und Orientierung bietet. Doch nachdem eine Studie zu dem Ergebnis kommt, dass zwei ehemalige Mitarbeiterinnen Kindern von Anfang der 2000er Jahre bis 2015 Leid zugefügt haben sollen, ist die heile Kinderdorf-Welt ins Wanken geraten.
Erich Schöpflin hat das Kinderdorf von 2003 bis 2016 geleitet. Wie der 70-Jährige unserer Zeitung sagt, hat er von den Vorwürfen erst erfahren, nachdem diese 2020 bei der Anlaufstelle für Betreute gemeldet worden waren. Vor gut einem Jahr sei er, der seit 2016 im Ruhestand ist, von dem Psychologen und Missbrauchsexperten Heiner Keupp dazu befragt worden. Keupp hat auch schon den Missbrauchsskandal im Kloster Ettal aufgearbeitet und wurde vom SOS-Kinderdorfverein mit der Untersuchung der Vorfälle in Dießen beauftragt.
Wie bereits berichtet, ist in der Studie von „kindeswohlgefährdenden Grenzüberschreitungen“, aber auch von „sexuellem Missbrauch“der ehemaligen Dorfmütter die
Rede. „Es bedrückt mich, dass sich die Kinder nicht an mich gewandt haben“, sagt Erich Schöpflin, der in seiner Zeit als Leiter auf dem Gelände des Kinderdorfs wohnte. Denn er wollte als Ansprechpartner für die Kinder vor Ort sein. Es sei ihm bewusst gewesen, dass in dem System eine gewisse Gefahr liege. Die Kinderdorfmutter sei die Autoritätsperson gewesen, auch wenn ihr Erzieherinnen und weiteres Fachpersonal zur Seite gestanden wären. Jede Dorfmutter habe auch eine Nische,
wo das Familienleben stattfindet, so Erich Schöpflin. Dort sei es sehr schwer, zu kontrollieren.
Das SOS-Kinderdorf AmmerseeLech in Dießen ist heute ein Verbund verschiedener Leistungsangebote der Kinder- und Jugendhilfe mit vielfältigen Unterstützungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Familien. Den Kern des Angebots bilden die SOS-Kinderdorffamilien. Die Kinder leben häufig bis zu ihrer Selbstständigkeit mit ihrer Kinderdorfmutter oder ihrem
Kinderdorfvater zusammen, die mit einem Erzieherteam arbeiten.
Erich Schöpflin bedrückt in erster Linie, dass die etablierten Standards und Richtlinien in Bezug auf Kinderschutz und die Qualität der pädagogischen Arbeit im SOS-Kinderdorf nicht ausgereicht hätten, um solche Vorfälle zu verhindern. Er hofft, dass Konsequenzen aus den Vorfällen gezogen werden. Wie berichtet, will der Kinderdorfverein unter anderem eine neue Stelle für Kinderschutz schaffen.