Jack London: Der Seewolf (43)
EDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.
r spähte ängstlich umher, und ich bemerkte, daß Kelly, der im letzten Augenblick nach vorn gekommen war, fehlte.
Wolf Larsen hatte das Boot verfehlt, die Lage hatte sich geändert, und so mußte er seine Zuflucht zu einem andern Manöver nehmen. Da wir mit dem Wind und allen Segeln nach Steuerbord liefen, kam er herum und halste backbord zurück.
„Großartig!“rief Johnson mir ins Ohr, als wir glücklich die Überschwemmung, die notwendige Folge des Manövers, überstanden hatten, und ich wußte, daß sein Ausruf sich nicht auf die seemännische Tüchtigkeit Wolf Larsens, sondern auf die Leistung der ,Ghost‘ selbst bezog.
Es war jetzt so dunkel, daß von dem Boote nichts mehr zu sehen war. Wolf Larsen aber führte, wie durch einen unfehlbaren Instinkt geleitet, das Ruder. Obwohl wir immer halb unter Wasser waren, wurden wir diesmal in kein Wellental hinuntergeschwemmt, sondern trieben
geradeswegs auf das Boot zu, das, freilich arg beschädigt, an Bord geheißt wurde. Es folgten zwei Stunden furchtbarer Anstrengung. Wir alle an Bord – zwei Jäger, drei Matrosen, Wolf Larsen und ich – refften zuerst den Klüver, dann das Großsegel. Beigedreht und mit so wenig Leinwand war das Deck einigermaßen trocken, und die ,Ghost‘ wippte wie ein Kork auf den Seen.
Ich hatte mir gleich im Anfang die Haut von den Fingern gerissen, und beim Reffen hatte ich vor Schmerz kaum die Tränen zurückhalten können. Als jetzt alles getan war, ließ ich mich wie ein Weib gehen und warf mich, jammernd vor Schmerz und Erschöpfung, aufs Deck.
Unterdessen war Thomas Mugridge wie eine ertrunkene Ratte unter dem Backkopf hervorgezogen worden, wo er sich feige verkrochen hatte. Als er achtern nach der Kajüte geschleppt wurde, sah ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß die Kombüse verschwunden war. Wo sie gestanden hatte, war klar Deck.
In der Kajüte fand ich alle Mann, auch die Matrosen, versammelt, und während der Kaffee auf dem kleinen Ofen gekocht wurde, tranken wir Whisky und kauten Zwiebäcke. Nie im Leben war mir Essen so willkommen gewesen, und nie hatte mir heißer Kaffee so geschmeckt. So gewaltig rollte und stieß die ,Ghost‘, daß selbst die Matrosen sich nicht bewegen konnten, ohne sich festzuhalten, und daß wir mehrmals unter allgemeinem Geschrei nach Backbord an die Wand geschleudert wurden, als hätten wir uns an Deck befunden.
„Zum Teufel mit dem Ausguck!“hörte ich Wolf Larsen sagen, als wir uns satt gegessen und getrunken hatten. „An Deck kann doch nichts mehr gemacht werden. Wenn jemand uns überrennen will, können wir ihm doch nicht ausweichen. Alle Mann in die Kojen, und versucht ein bißchen zu schlafen!“
Die Matrosen kämpften sich nach vorn und setzten unterwegs die Seitenlichter, während die beiden Jäger zum Schlafen in der Kajüte blieben, da es nicht ratsam war, die Zwischendecksluke zu öffnen. Wolf Larsen und ich amputierten gemeinsam Kerfoots zerschmetterten Finger und vernähten die Wunde. Mugridge, der die ganze Zeit, während er Kaffee machen und aufwarten mußte, über innere Schmerzen geklagt hatte, schwor jetzt, daß er zwei oder drei Rippen gebrochen hätte. Aber er mußte bis zum nächsten Tage warten, zumal ich nichts von gebrochenen Rippen verstand und erst darüber nachlesen mußte.
„Ich finde nicht, daß es das wert war,“sagte ich zu Wolf Larsen, „ein zersplittertes Boot für Kellys Leben!“
„Kelly war nicht viel wert“, lautete die Antwort. „Gute Nacht!“
Nach allem, was sich ereignet hatte, bei fast unerträglichen Schmerzen in den Fingerspitzen und den Gedanken an die drei vermißten Boote, gar nicht zu reden von den wilden Sprüngen, die die ,Ghost‘ machte, hätte ich nicht geglaubt, daß es möglich gewesen wäre, zu schlafen. Aber meine Augen müssen sich in demselben Augenblick geschlossen haben, als mein Kopf das Kissen berührte, und in äußerster Erschöpfung schlief ich die ganze Nacht, während sich die ,Ghost‘, einsam und ungeleitet, ihren Weg durch den Sturm erkämpfte.
Am nächsten Tage paukten Wolf Larsen und ich, während der Sturm sich austobte, schnell Anatomie und Chirurgie und setzten Mugridges Rippen wieder zurecht. Als dann die Gewalt des Orkans gebrochen war, kreuzte Wolf Larsen über die Stelle, wo er uns überrascht hatte, zurück, und fuhr dann, während die Boote ausgebessert und neue Segel gemacht wurden, etwas weiter nach Westen. Ein Robbenschoner nach dem andern wurde gesichtet und geprait; die meisten hatten Boote und Mannschaften an Bord, die sie aufgelesen hatten und die ihnen nicht gehörten. Der größte Teil der Flotte hatte sich westlich von uns befunden, und die weit verstreuten Boote hatten in wilder Flucht den ersten besten Zufluchtsort aufgesucht.
Zwei unserer Boote mit wohlbehaltener Mannschaft nahmen wir von der ,Cisco‘ über, und zu Wolf Larsens großer Freude und meinem Schmerz las er Smoke, Nilson und Leach von der ,San Diego‘ auf. So waren wir nach fünf Tagen, nur um vier Mann ärmer – Henderson, Holoyak, Williams und Kelly – wieder hinter den Herden her.
Wir verfolgten sie weiter nordwärts, und nun trafen wir auf die gefürchteten Seenebel, Tag auf Tag wurden die Boote hinuntergefiert und verschwanden, fast ehe sie noch das Wasser berührt hatten. Wir an Bord stießen in regelmäßigen Zwischenräumen ins Horn und gaben alle fünfzehn Minuten Signalschüsse ab. Beständig wurden Boote verloren und wiedergefunden, und es war üblich, mit dem ersten besten fremden Schoner zu jagen, der das Boot aufnahm, bis der eigene Schoner gefunden war. Da Wolf Larsen jedoch ein Boot fehlte, ergriff er Besitz von dem ersten fremden, das uns in die Quere kam, zwang die Mannschaft, auf der ,Ghost‘ zu bleiben und erlaubte ihnen nicht, zurückzukehren, als wir ihren eigenen Schoner sichteten. Ich weiß noch, wie er dem Jäger und seinen beiden Leuten das Gewehr auf die Brust setzte und sie nach unten trieb, als ihr Kapitän uns passierte und praite, um nach ihnen zu fragen.
Thomas Mugridge, der sich so seltsam und hartnäckig ans Leben klammerte, humpelte wieder herum und kam seinen zweifachen Pflichten als Koch und Kajütsjunge nach. Johnson und Leach wurden schlimmer behandelt als je, und sie erwarteten, daß mit der Jagdzeit auch ihr Leben zu Ende sein würde. Aber auch die übrige Mannschaft lebte ein wahres Hundeleben unter ihrem erbarmungslosen Herrn. Ich selbst kam ganz gut mit Wolf Larsen aus, obgleich ich nie den Gedanken loswerden konnte, daß ich am richtigsten handeln würde, wenn ich ihn tötete. Er übte einen ungeheuren Zauber auf mich aus, und ich fürchtete ihn grenzenlos. Und doch konnte ich mir nicht vorstellen, daß er tot hingestreckt daliegen sollte. Es war ein Hauch von Ewigkeit über ihm. Immerwährende Jugend umwehte ihn und verscheuchte das Bild.