Schonungslose CoronaBilanz
Großbritannien Ein Parlamentsbericht wirft der Politik vor, viel zu spät auf die Pandemie reagiert zu haben. Lob gibt es für die Impfkampagne
London Der Himmel strahlt in einem kräftigen Blau, als die letzten Läufer des „TCS London-Marathon“im Ziel einlaufen. Hunderte Menschen drängen sich auf den Straßen nahe dem Buckingham-Palast, um den teils glücklichen, teils ausgezehrten Sportlern zuzujubeln. Kaum einer der Zuschauer trägt eine Maske. Zugangsbeschränkungen gibt es nicht. Von der Pandemie spürt man an diesem Tag nur wenig. Genauso scheint Normalität eingekehrt zu sein ins Alltagsleben der Briten. In den Pubs drängeln sich die Menschen am Tresen, die Restaurants sind voll und Besucher schlendern ohne Restriktionen durch die Museen Londons.
Tatsächlich ist die Zahl der Neuinfektionen im Vereinigten Königreich trotz „Freedom Day“am 19. Juli, geöffneter Schulen und Großveranstaltungen zuletzt nur leicht gestiegen. Anfang dieser Woche wurden rund 40200 täglich erfasst. Die Zahl der Menschen, die täglich durch Covid-19 gestorben sind, sank sogar – auf 75 Fälle. Zum Vergleich: Im Januar dieses Jahres verzeichneten die Behörden zeitweise mehr als 1300 Tote pro Tag.
Koen Pouwels, Experte für den Verlauf von Infektionskrankheiten beim „Health Economics Research Center“in Oxford, macht im Gespräch mit unserer Redaktion für diese positive Entwicklung die nach wie vor vergleichsweise hohe Impfquote im Land verantwortlich. „Es ist ein gutes Zeichen, dass die Zahl der Menschen, die wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert werden, sinkt“, sagte er. „Aber es gibt absolut keine Garantie dafür, dass dies auch so bleibt.“Der Grund: Die Immunität der Menschen nehme im Laufe der Zeit ab, sodass das Virus wieder leichter übertragen werden kann – erst recht, wenn es kalt wird und sich die Menschen in schlecht belüfteten Räumen treffen.
Die Erinnerungen an den letzten Winter sind bei den Briten noch präsent. Im Londoner Stadtteil Hackney war die Lage besonders dramatisch. Eine Bewohnerin berichtet davon, wie bedrückend es war, als rechts und links von ihrem Haus die betagten Nachbarn starben. Auch ihr Mann war schwer an Covid erkrankt, hatte Atemprobleme. Die Engländerin Fatema pflegte ihn zu Hause. „Man sagte mir, ich solle von ihm Abstand halten. Aber ich musste mich doch um ihn kümmern“, sagt die Erzieherin. In der schlimmsten Phase der Pandemie Anfang des Jahres wurden täglich rund 4000 Menschen in Krankenhäuser eingeliefert. Nur durch einen monatelangen harten Lockdown ab Januar gelang es, die Lage in England wieder unter Kontrolle zu bringen. Eine junge Londonerin erinnert sich: „Wir konnten nichts mehr tun, saßen nur noch zu Hause. Es war schrecklich.“
Ein detaillierter Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission zählt aktuell auf, wie es zu dieser dramatischen Entwicklung kommen konnte. Auf 151 Seiten werden die Entscheidungen der Regierung in der Corona-Pandemie analysiert. Das Urteil: Zu Beginn der Pandemie wurden „schwere Fehler“gemacht, die „Menschenleben gekostet haben“. Für diese schweren Fehler verantwortlich war laut dem Bericht unter anderem die Annahme von Politikern und wissenschaftlichen Beratern, dass man das Virus ohnehin nicht aufhalten könne. Erkenntnisse aus asiatischen Staaten, die zeigten, dass es wichtig ist, schnell zu reagieren, habe man ignoriert. Stattdessen setzte die Regierung unter Premierminister Boris Johnson auf eine „Durchseuchung“der Bevölkerung.
Maßnahmen wie ein Lockdown und Tests, die, wie in dem Bericht angemerkt, teilweise sogar in Großbritannien entwickelt wurden, kamen zu spät zum Einsatz. Gleichzeitig lobt der Bericht die Impfkampagne und bezeichnet sie als „eine der effektivsten in Europa“.
Insgesamt kommt die Kommission jedoch zu einem vernichtenden Urteil: Das Verhalten in den ersten Wochen der Pandemie zähle zu den „größten Versagen im Gesundheitswesen in der Geschichte des Vereinigten Königreichs“. Die Leiter der Kommission, Jeremy Hunt und Greg Clark, kommentierten: „Die Reaktion Großbritanniens auf die Pandemie ist eine Kombination aus großen Errungenschaften und großen Fehlern.“Es war diese Kombination, die dazu führte, dass die Briten im Frühjahr dieses Jahres neben einer schnellen Impfkampagne auch einen langen Lockdown durchleben mussten. Der von Boris Johnson zunächst für den 19. Juni terminierte „Freedom Day“wirkte da für viele wie ein Licht am Ende des Tunnels. An diesem Tag sollten im Vereinigten Königreich alle Covid19-Schutzmaßnahmen fallen.
Schließlich wurde der „Tag der Freiheit“wegen der anhaltend hohen Fallzahlen auf den 19. Juli verschoben. Seitdem muss man in Bars, Clubs und Restaurants keine Maske mehr tragen, mit einigen Ausnahmen wie beispielsweise dem öffentlichen Nahverkehr, in Zügen und im Flugzeug. Auch Festivals und andere Großveranstaltungen können ohne Einschränkungen stattfinden. Tatsächlich tragen dieser Tage nur noch wenige Menschen in London einen Mund-Nasen-Schutz, sei es im Pub oder beim Einkaufen.
Auch der Wissenschaftler Koen Pouwels räumt ein, dass ihn die Ankündigung eines „Freedom Day“in Großbritannien zunächst befremdet hat. Er lebt zwar schon seit fünf Jahren in England, ist aber gebürtiger Niederländer. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas in meinem Heimatland geben könnte“, sagte er. Aus wissenschaftlicher Perspektive hatte er jedoch keine großen Bedenken: „Der ‚Freedom Day‘ kam schließlich im Sommer und in einer Zeit, als schon viele Menschen geimpft waren.“
Ist der Umgang mit der Pandemie auch eine Frage der nationalen Mentalität? Feststeht, dass in Großbritannien Konzepte von Freiheit schon seit der „Bill of Rights“im Jahre 1689 eine wichtige Rolle spielen. Diese Gesetzesvorlage limitierte die Macht des Königs und verbriefte den Bürgern bestimmte Freiheiten. Der Einfluss des Staates sollte sich, so waren sich viele britische Autoren und Philosophen schon im 19. Jahrhundert einig, auf ein Minimum beschränken. Ein Gedanke, der sich bis heute fortsetzt.
Die Zahl der Menschen, die infolge einer Covid-Erkrankung ins Krankenhaus eingeliefert werden, nimmt wieder zu. Doch Premierminister Boris Johnson gibt sich gewohnt optimistisch. Angesichts des Winters mit einer anhaltenden Pandemie und einer zu befürchtenden Grippewelle rief er dazu auf, dass sich noch mehr Menschen impfen lassen sollen. Gleichzeitig sollten sie jedoch auch so schnell wie möglich wieder in ihren Büros arbeiten. Denn „eine produktive Gesellschaft braucht dieses gewisse Etwas, das nur entsteht, wenn man sich von Angesicht zu Angesicht trifft – und durch Plaudereien am Wasserspender“.
Schwere Fehler haben Menschenleben gekostet