Schwabmünchner Allgemeine

Er kam als Gastarbeit­er und blieb

Bundesweit demonstrie­ren Menschen gegen rechtsextr­eme Deportatio­nspläne. Der Italiener Antonino Tortorici lebt seit knapp 60 Jahren in Memmingen. Wie er über Integratio­n, Heimat und die Menschen im Allgäu denkt.

- Von Tobias Schuhwerk

Er kam, sah und fröstelte. Im Dezember 1965 traf Antonino Tortorici im Allgäu ein. Angereist mit seinem Papa im Zug aus Sizilien. In Memmingen arbeitete bereits sein Bruder als Schneider. Antonino Tortorici, damals 16, wollte ein paar Wochen bleiben, um ein bisschen Geld zu verdienen. Mit seinem Vater zählte er zu den sogenannte­n Gastarbeit­ern, die von 1955 bis 1973 in die Bundesrepu­blik kamen – auf Drängen der Wirtschaft, die damit ihren Arbeitskrä­ftemangel ausglich. Anwerbeabk­ommen schloss Deutschlan­d etwa mit Italien, Spanien oder der Türkei. „Unser Zug war total voll. Es gab viele Italiener, die es zur Arbeit nach Deutschlan­d zog“, erinnert sich Tortorici. Fast alle wollten bald wieder zurücksein.

Genau wie er. Doch es kam völlig anders. Heute, fast 60 Jahre später, lebt Antonino Tortorici noch immer im Allgäu. Und das mit Freude und mit vielen Freunden: Der 74-Jährige ist Mitbegründ­er des deutsch-italienisc­hen Freundeskr­eises in Memmingen, engagiert sich im Ausländerb­eirat und ist als italienisc­her Konsularko­rresponden­t erste Anlaufstel­le bei bürokratis­chen Fragen für seine Landsleute im Unterallgä­u. Ein glückliche­r Italiener in Deutschlan­d.

„Das geht“, sagt er schmunzeln­d. In seiner Wahl-Heimat sind ihm längst Dinge selbstvers­tändlich, wegen denen die Sizilianer vermutlich die Hände über dem Kopf zusammensc­hlagen würden. Freiwillig Filterkaff­ee zu trinken zum Beispiel. „Ich mag die großen Becher in Deutschlan­d“, gesteht er. „Aber natürlich trinke ich mit Freunden auch gerne einen Espresso.“

Zuhause fühlt er sich eben in beiden Welten. Auch beim Essen. Mit seiner Frau Silvana isst er zuhause italienisc­h. Wenn die beiden ausgehen, steht Gut-Bürgerlich­es auf der Speisekart­e: „Kässpatzen, Schnitzel, Zwiebelros­tbraten“, sagt Tortorici. Er mag die Allgäuer Berge, die grünen Sommerwies­en, die Wälder. Und er hat sich mit dem Winter arrangiert: „Man muss sich nur passend anziehen.“

Das hat er bei der Arbeit als Weber schnell gelernt. Eine fürsorglic­he Kollegin strickte damals eigens Wollsocken für den fleißigen jungen Gastarbeit­er. „Das war ein Segen.“Überhaupt seien die Allgäuer sehr hilfsberei­t: „Wenn sie einen kennen und mögen, schenken sie ihr Herz.“

Antonino Tortorici, den alle Nino nennen, hat die Herzen offenbar schnell erobert. Die Firma stellte ihm und seinem Vater bald eine größere Betriebswo­hnung, damit weitere Angehörige ins Allgäu ziehen konnten. Privat fand er beim Fußball schnell Anschluss. Er verbessert­e täglich seinen Wortschatz, der anfangs aus „Guten Morgen“und „Grüß Gott“bestand. „Wer sich integriere­n will, muss die Sprache lernen und sich der Kultur anpassen.“Am schnellste­n gelänge das durch Arbeit oder im Ehrenamt. Tortorici lebt es selbst vor.

Sizilien bleibt er dennoch treu. Jedes Jahr besucht er alte Freunde auf der Insel. Manchmal bleibt er einige Wochen. Dann muss er zurück: „Im Allgäu werde ich gebraucht.“Im Vergleich zu früher sei die Reise entspannt. Der Allgäu Airport macht’s möglich. Dass von dort aus Flüge nach Catania oder Palermo abheben, hat ein Stück weit mit Antonio Tortorici zu tun. Vor etlichen Jahren habe er Flughafen-Geschäftsf­ührer Ralf Schmid Flüge nach Sizilien vorgeschla­gen. Zum Beweis für die Nachfrage ließ er sich vom Konsulat die Zahl der Italiener im Allgäu auflisten: „Es sind etwa 15.000. Über die Hälfte davon kommt aus Sizilien.“Wenig später wurde die Sonneninse­l ab Memmingen angeflogen.

Früher konnte Antonino Tortorici im kalten Allgäuer Winter nur von Sizilien träumen. Eine Heimreise per Zug wäre zu teuer gewesen. In Erinnerung blieb ihm, was er sich von seinem ersten Gehalt kaufte: einen Anorak.

„Wer sich integriere­n will, muss die Sprache lernen.“

Antonino Tortorici

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 ?? Fotos: Tobias Schuhwerk, Familie Tortorici ?? Antonino Tortorici kam als sogenannte­r Gastarbeit­er nach Memmingen. Dort arbeitete er als technische­r Weber. Mittlerwei­le lebt er seit fast 60 Jahren im Allgäu.
Fotos: Tobias Schuhwerk, Familie Tortorici Antonino Tortorici kam als sogenannte­r Gastarbeit­er nach Memmingen. Dort arbeitete er als technische­r Weber. Mittlerwei­le lebt er seit fast 60 Jahren im Allgäu.

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