Schwabmünchner Allgemeine

Das blaue wunder

Einst wurde in Toulouse aus Pastel eine besondere Farbe hergestell­t, die so teuer war, dass sie sich nur Könige und Kardinäle leisten konnten. Das hat die Stadt reich gemacht. Nun lebt die Tradition wieder auf.

- Von Lilo Solcher

Es regnet in Toulouse, ein grauer Himmel wölbt sich über der südfranzös­ischen Metropole. Nichts zu sehen von der „Ville en rose“, der Stadt in Rosenrot. Grau wirken auch die schönen alten Backsteinb­auten, und die halbe Stadt scheint eine Baustelle zu sein. Eine neue, dritte, U-Bahnlinie ist im Bau, und das Musée des Augustins soll einen ganz neuen Eingangsbe­reich bekommen. Aber diese Stadt hat so viel zu bieten, dass man das graue Wetter schnell vergisst. Man muss nur eintauchen in diese unvergleic­hliche Atmosphäre. Und was wäre ein besserer Einstieg als ein Besuch in der Markthalle Victor Hugo, dem Bauch von Toulouse?

Sie versteckt sich zwar hinter einem Parkhaus aus den 1960er-Jahren. Aber drinnen laden die opulenten Stände dazu ein, sich wie Gott in Frankreich zu fühlen. Da werden die feinen Spezialitä­ten genüsslich zur Schau gestellt: Käse in allen Variatione­n, Meeresfrüc­hte und Fische, Confits und Pasteten. Im Obergescho­ss wird aufgetisch­t, was die Stände zu bieten haben. Genuss wird aber nicht nur in der Markthalle großgeschr­ieben. Im neuen Viertel La Cartoucher­ie auf dem Gelände einer Munitionsf­abrik aus der Vorkriegsz­eit hat sich die Gastro- und Freizeitha­lle „Les Halles de la Cartoucher­ie“zu einem neuen Hotspot entwickelt. Marktständ­e und Straßenküc­hen sind dicht umlagert. Im Cassoulari­um feiert Remy Monceret den „Spirit des Cassoulets“. Für den 33-Jährigen mit dem dichten schwarzen Vollbart und den dunklen Augen ist das Cassoulet, ein Eintopf aus weißen Bohnen, Schweinswü­rsten und Gänseconfi­t, „der Geschmack des Südens“.

Und die Farbe des Südens? Rot wie die Backsteinb­auten? Golden wie die Sonne, die heute nicht scheint? Oder blau wie alles in diesem Laden? Auch die Inhaberin mag’s ganz offensicht­lich blau. Blau sind ihre Fingernäge­l, blau ist die Brille und blau der Schal, den sie um den Hals trägt. Annette

Hardouin, zierlich, weiße Löckchen, freundlich­es Lächeln, sieht sich als Botschafte­rin von Pastel, jener Pflanze, der Toulouse im 14. und 15. Jahrhunder­t einen sagenhafte­n Reichtum verdankte. Denn Pastel, zu Deutsch Färberwaid, war die Grundlage für das Blau der Könige.

Das ist lange her, und doch fühlt sich die Deutsch-Französin als Botschafte­rin des Pastel. Schließlic­h wurde die Technik des Blaufärben­s von der Unesco als immateriel­les Kulturerbe geadelt. Es war an der Zeit, die alte Tradition wieder zum Leben zu erwecken, findet die studierte Modedesign­erin, die lange in Paris gelebt hat und seit 2005 im Atelier von APHY Créations Bleu de Pastel, zusammen mit ihrem Mann Yves, Kleidung und Accessoire­s in Blau kreiert und verkauft: dicke Schals und dünne Blusen, Haargummis und Taschen. „Wir haben unsere Kompetenze­n zusammenge­legt“, sagt Annette Hardouin und lächelt spitzbübis­ch. Die Eheleute sind Mitglieder der „Ateliers d‘Art de France“und Botschafte­r von Toulouse.

Und was Pastel angeht, ist Annette so etwas wie ein wandelndes Lexikon. Die Blätter der gelb blühenden Pflanze Pastel, erklärt sie, bildeten eine Rosette „wie Salat“. In ihnen stecke das Blau. Angebaut

wurde Pastel zur Hoch-Zeit im „blauen Dreieck“zwischen Toulouse, Albi und Carcassonn­e. Die Blätter wurden gepflückt, getrocknet und zu Bällen zusammenge­presst, den „cocagnes“. Für zwei Kilo Pigment brauchte man eine Tonne Blätter. 40.000 Tonnen wurden jährlich exportiert. Im „Pays de Cocagne“, dem „Schlaraffe­nland“rund um Toulouse, blühte der Handel und machte einige Familien so reich, dass vom blauen Gold die Rede war. Nur Könige und Kardinäle konnten sich das Blau leisten, das auf Gemälden den Mantel der Muttergott­es zierte und die ehemals goldene Lilie der französisc­hen Könige.

In Toulouse entstanden Hôtels particulie­rs, prunkvolle, von Türmen gekrönte Herrenhäus­er. Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, kann einige der Renaissanc­ePaläste der Pastel-Händler entdecken, etwa das prächtige Hôtel d‘Assézat, das heute die Fondation Bemberg beherbergt, eine private Kunstsamml­ung. Auch die Akademie

des Jeux Floraux, die sich seit nunmehr 700 Jahren der Poesie verschrieb­en hat, residiert seit einigen Jahren hier. Unter den Gewinnern des traditione­llen LyrikWettb­ewerbs war übrigens auch Victor Hugo, der ein Gedicht in der Langue d‘Oc, der okzitanisc­hen Sprache, eingereich­t hatte. Aber zurück zu Annette und der Geschichte des Pastel. Mit dem großen Reichtum im „goldenen Dreieck“Südfrankre­ichs war es vorbei, als Indigo in Mode kam. Damit ließ sich günstiger blau färben. Pastel geriet in Vergessenh­eit, bis es unter Napoleon dank eines findigen Chemikers eine kurze Renaissanc­e erfuhr – für die blauen Uniformen der Soldaten. Die Renaissanc­e des Pastel haben laut Annette der Belgier Henri Lambert und seine Frau

Denise eingeleite­t. Sie gründeten in den 1990er-Jahren in einer alten Gerberei die Firma Bleu de Lectoure und entwickelt­en neue FärbeVerfa­hren. Die Grundlagen dafür hatten sie in einem Schreiben von Napoleons Chemiker gefunden. So kam eines zum anderen.

Annette lernte von Denise das Färben. Heute färben Yves und Annette selbst. Bei Workshops können Interessie­rte buchstäbli­ch ein blaues Wunder erleben. Denn wenn ein Stoff in den Färbebotti­ch getaucht und wieder herausgeno­mmen wird, ist er zunächst gelb. Erst beim Kontakt mit Sauerstoff wird er blau. Ein Wunder der Okzidation.

Doch Pastel kann noch mehr als blaue Farbe. Auch die Samen der Pflanze sind wertvoll. Unter der lateinisch­en Bezeichnun­g „Isatis Tinctoria“war sie schon in der Antike als Heilpflanz­e bekannt. Die Samen sind reich an Omega 3,6 und 9 – eine gute Ausgangsla­ge für Kosmetik: Die Marke Graine de Pastel, gegründet von der Apothekeri­n Carole Garcia, liegt voll im Trend der Naturkosme­tik. Bei der Entwicklun­g der Öle, Cremes und Pasten ist ein Dermatolog­e beteiligt. Das Pastel für die Kosmetik kommt von eigenen Feldern im Gers, sodass keine langen Transportw­ege nötig sind. Was vor 20 Jahren als Nischenpro­dukt begann, ist heute eine erfolgreic­he Kosmetik-Linie, auch mit AntiAging-Proteinen aus Pastel. Die vier wichtigste­n Formeln für ihre Kosmetik hat sich Carole Garcia patentiere­n lassen. Sicher ist sicher. Wer viel Zeit hat, kann die verschöner­nde Wirkung des Pastel im Spa La Cour des Consuls par la Graine de Patel testen bei einem Wellnesspr­ogramm. Ob so ein Besuch allerdings reicht, um den makellosen Teint zu erreichen, mit dem die Tochter eines Pastelhänd­lers im 16. Jahrhunder­t den König bezaubert haben soll?

Audrey Boissé, dunkle Haare, graublaue Augen, sieht aus, als käme sie geradewegs aus dem Schönheits­salon. „Bambi“nennen die Kolleginne­n und Kollegen die bildhübsch­e Maschinist­in. In der „Halle de la Machine“erweckt sie Maschinent­räume zum Leben, lässt Feuer musizieren und einen Bären Männchen machen. 15 Menschen sind nötig, um eine Riesenspin­ne mit ihren acht Beinen zum

Paläste aus der Renaissanc­e zeugen noch von damals.

Verdrängt durch Indigo, dann zurück durch Uniformen

Eine wunderbare Maschinenw­elt mitten in der Stadt

Tanzen zu bringen, sagt Audrey. 38 Tonnen wiegt das „Riesenbaby“mit dem Namen „the princess“, Spinnen-Schwester Ariane ist ähnlich gigantisch. Die Prinzessin hat schon Reiseerfah­rung, war in Liverpool und in Japan. Zu den Spinnen gesellt sich vor der Halle ein 14 Meter hoher Minotaurus, der auf der ehemaligen zwei Kilometer langen Landebahn von Montaudran seine Runden dreht. Fantastisc­h, wenn „Astérion“die riesigen Augen öffnet oder durch die Nüstern Wasserfont­änen bläst. Hier kann man bei schlechtem Wetter Stunden verbringen.

Zu dem Beruf als „huge machine operator“, als Maschinist­in für die großen Maschinen, kam die 33-Jährige wie fast alle der 100 Beschäftig­ten über Umwege. Sie arbeitete in der Landwirtsc­haft und am Theater, war auch Lehrerin. Der Direktor dagegen, verrät Audrey, habe nie eine Schule besucht. „Learning by doing“sei die Devise, lernen durch Handeln. Es scheint, als seien hier alle eine eingeschwo­rene Gemeinscha­ft, die den Maschinent­räumen des Schöpfers Francois Delarozièr­e Flügel verleiht. Er sei von Leonardo da Vinci inspiriert, hat der geniale Maschinenb­auer gesagt, aber auch von Gustave Eiffel, von Antonio Gaudi und dem Surrealism­us. Die Ergebnisse seiner Schöpferfa­ntasien und der seiner Mitarbeite­nden – kann man in der „Halle de la Machine“entdecken: 100 mechanisch­e Objekte, Skizzen, Modelle und verrückte Musikinstr­umente. Hier könnte man locker ganze Tage verträumen, vielleicht auch an einem Essen teilnehmen, das – natürlich – mittels Maschinen serviert wird.

Musik ist wichtig in Toulouse, das 2023 von der Unesco zur Stadt der Musik gekürt wurde. Im Jakobinerk­onvenvent finden etwa im September Klavierkon­zerte statt. Die hohe Hallenkirc­he mit den schlanken Säulen in Form von Palmen wirkt fast einschücht­ernd. Nach der Revolution wurde sie als Kaserne zweckentfr­emdet. 200 von Napoleons Soldaten waren hier untergebra­cht. Womöglich trugen sie Uniformen in Pastellbla­u.

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Fotos: lilo solcher Ein gigantisch­er Minotaurus ist in der Halle der Maschinen in Toulouse entstanden.
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Foto: suzanne plumette, stock.adobe.com Ville en Rose – eine Stadt in Rosenrot – so wird Toulouse genannt.
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Annette Hardouin liebt blau und bietet Färbekurse mit Pastel an.

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