Schwabmünchner Allgemeine

Ewald Arenz: Alte Sorten (37)

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Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Du sperrst mich nicht mehr ein. Am Berg.

Mehr hatte sie zu Sonny nicht sagen müssen. Er holte sie immer dort ab. Oben am Weinberg, wo sie das erste Mal seine Hand genommen hatte und er so überrascht gewesen war, dass sie sie beinahe wieder losgelasse­n hätte. Aber heute war nicht immer. Heute war für immer.

Sie hörte das unverkennb­ar weiche Rattern des VW-Motors schon, als Sonnys Bus noch ganz unten im

Tal sein musste und nicht zu sehen war. Eine Wärme ging ihr durch den Magen, die die kleine Übelkeit auflöste, die dort jeden Morgen war, an dem sie im Haus aufwachte. Sonny.

Sie beobachtet­e den Bus, wie er den Weg zwischen den Weinbergen hochkroch. Gut, dass kein Schnee lag. Sonny hatte keine Winterreif­en am Bus. Aber in Italien würde kein Schnee liegen, in Südfrankre­ich auch nicht und nicht in Spanien. Über die Alpen würden sie schon irgendwie kommen. Sie war noch nie in den Alpen gewesen, aber sie würden es schon schaffen. Sonny und sie.

Das Motorgeräu­sch wurde lauter, der Bus kletterte zu ihr hoch, blieb schnurrend stehen. Sie öffnete die Seitentür und warf ihren Rucksack hinein. Sonny drehte sich zu ihr um.

Acht Uhr. Du hast acht Uhr gesagt.

Sie war ein bisschen überrascht. Ich freue mich auch, dich zu sehen. Ich habe es daheim nicht mehr ausgehalte­n. Und es hat mir nichts ausgemacht zu warten.

Ich wäre schon eher gekommen, aber du hast acht gesagt.

Sie warf die Schiebetür zu und kletterte nach vorn auf den Beifahrers­itz.

Italien, sagte dich?

Sonny wendete. Er legte den Arm auf den Beifahrers­itz, als er sich dazu umdrehte.

Ja. Er gab Gas. Ich hätte echt schon eher da sein können, aber du hast acht gesagt.

Sie kurbelte die Scheibe herunter. Ein Hauch der Übelkeit von vorhin war wieder da. Sie atmete tief ein. Die Luft war kalt, aber frisch.

In Spanien, rief sie Sonny durch den Fahrtwind zu, ernten sie jetzt die Orangen.

Sonny lächelte ein bisschen. Dann mach das Fenster in Spanien wieder auf, rief er zurück, hier ist es kalt.

Schließlic­h bogen sie auf die Autobahn ein. sie. Freust du

Sie sah hinaus. Es regnete in Strömen, und sie hatte ihren Atem sehen können, als sie vorhin über den Hof gegangen war. Ein Tag, der den November vorwegnahm. Das Mädchen würde nass werden. Soviel sie wusste, hatte sie keine Regenjacke.

Sie schüttelte den Kopf und griff nach dem Tabaksbeut­el, der auf dem Regal über dem Herd lag. Sie hatte bestimmt seit zwei Wochen nicht geraucht, aber heute war ihr danach. Sie drehte die Zigarette im Stehen, legte den Beutel zurück und riss ein Streichhol­z an. Dann öffnete sie die Glastür zum Hof, sah in den Regen, rauchte und bemühte sich, gar nichts zu denken. Auf der Straße fuhr die alte Anni mit gebeugtem Kopf auf ihrem Rad zur Kirche und sah sie nicht, weil sie sich ein Plastikcap­e aus einem alten Düngemitte­lsack übergeworf­en hatte. Ein plötzliche­s Gefühl der Zuneigung für diese alte, zähe Frau ging durch sie wie eine kleine warme Welle.

Regen. Rauch. Regen. Sie hatte es immer gemocht, dem Regen zuzusehen, dem Regen zuzuhören und dabei zu rauchen, wenn sie damals nachts im Fenster saß und alle anderen endlich schliefen. Es war hundert Jahre her.

Sie warf die Zigarette in den Regen und ging in den Keller, um nach der Maische zu sehen.

Schon auf den Steinstufe­n hinab in den Keller schlug ihr der überwältig­ende Geruch der gärenden Birnen entgegen. Zwei Tage hatten sie die Birnen geerntet, Hunderte von Kilos durch die Obstmühle gedreht und schließlic­h püriert. Liss musste lächeln, sie dachte an Sallys Gesicht, als diese das erste Mal den Pürierstab gesehen hatte: Hallo? Das ist kein Pürierstab, das ist eine Bohrmaschi­ne! Es hatte Sally Spaß gemacht, den Blender in die Fässer zu wuchten, ihn mit beiden Händen zu halten und mit der schweren Birnenmass­e zu kämpfen, die Hefe und den Zucker abzuwiegen und unterzurüh­ren. Liss hatte sie dabei beobachtet, wie sie mit ihren schmalen Armen die Fässer gekippt hatte, um sie aus dem Weg zu drehen. Es hatte nicht so ausgesehen, als ob sie so etwas das erste Mal getan hätte. Den Erntehelfe­rn der vergangene­n Jahre hatte sie solche Sachen meist erst zeigen müssen. Das Mädchen wusste oft schon, wo es hingreifen musste, bevor man es ihm sagte.

Liss ging die Fässer ab und sah nach, ob die Gärspunde ordentlich saßen und richtig gefüllt waren. Bei zweien kippte sie verdünnte Schwefelsä­ure nach. Das Flüstern der Gärgase in den Glasröhren vermischte sich mit dem gleichmäßi­gen leisen Rauschen des Regens, das durch die halb geöffneten Kellerfens­ter drang. Liss blieb stehen. Wenn es hier unten sonst oft überrasche­nd hell war, weil die schmalen Fenster günstig lagen, war das Licht an diesem Tag trüb, und der lange Gang, der sich unter dem Hof bis zur Scheune erstreckte, wirkte dunkel und unfreundli­ch. Sie zuckte die Schultern.

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