Schwabmünchner Allgemeine

Sie kämpft täglich ums Überleben

Jahrelang hat sich Doreen Falk im Großraum Augsburg beruflich für andere eingesetzt. Jetzt braucht die 52-Jährige die Unterstütz­ung anderer. Wie konnte es so weit kommen?

- Von Günter Stauch Seite 39

In ihrem turbulente­n Leben hat Doreen Falk schon immer den Dienst am Nächsten praktizier­t. Ob als Sanitätsso­ldatin, Krankenpfl­egerin, in der Seniorenhi­lfe, als Arztassist­entin oder beim Reinemache­n. Beim Befüllen von Verkaufsre­galen oder – erst neulich – beim Begleiten einer krankheits­anfälligen Nachbarin zum Arztbesuch. Dabei braucht die engagierte Frau aus Ostdeutsch­land Jahrgang 1972 seit Monaten dringend selbst die Unterstütz­ung anderer. Von dem einstigen Energiebün­del voller Tatendrang mit zahlreiche­n Berufswüns­chen blieb ein schmerzgep­einigter, erschöpfte­r Mensch übrig, der auf staatliche Hilfe bauen muss. Der Aufdruck „GdB 50“an ihrem Schwerbehi­ndertenaus­weis gibt an, wie schwer sich die gesundheit­lichen Schäden auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinscha­ft auswirken. Zum Welttag der Sozialen Gerechtigk­eit an diesem 20. Februar fragen wir: Wie konnte es nur so weit kommen?

Sicher, im Alter von zwölf Jahren mit der Mutter und dem zwei Jahre älteren Bruder vom damaligen DDR-Regime „ausgebürge­rt“zu werden, stellte für die Jugendlich­e eine Zäsur dar. Dennoch blickt Doreen Falk auch heute noch gerne zurück: „Ich war jeden Sommer beim Opa, der im Ostseeheil­bad Zingst ein hübsches Ferienhäus­chen besaß“, schmunzelt sie und lässt in ihrem sonst eher traurigen Blick ein Lächeln aufscheine­n. „Ich war gewisserma­ßen sein Liebling und er für mich der Größte“, erzählt die gebürtige Leipzigeri­n, die das Schwimmen in der Ostsee über alles liebte. Und schon als Jugendlich­e von so einem Gebäude mit spielenden Kindern geträumt hat.

Nach dem Umzug in den freien Westen gehörten für die Schülerin zu den zahlreiche­n Anpassungs­herausford­erungen im Alltag der neue Umgang im Klassenzim­mer: „Bei uns im Osten gab es ein strenges Regiment, beim Eintreten des Lehrers oder der Lehrerin standen alle auf – und jetzt war alles so viel lockerer.“Weil fortan die Fremdsprac­he Englisch statt Russisch hieß, brachte die Neue manchmal die Verben durcheinan­der. Das immer wieder auftauchen­de „Sächseln“in ihren Sätzen war ihr mitunter richtig peinlich.

Weil die so sehr gewünschte Ausbildung als Friseurin aus gesundheit­lichen Gründen abgebroche­n werden musste, fand die nach Schwaben Zugezogene beim Sanitätsdi­enst der Bundeswehr in Lagerlechf­eld eine andere, für sie sinnvolle Beschäftig­ung. Auch danach kamen für die talentiert­e Betreuerin vor allem Jobs in der Krankenpfl­ege und für Seniorendi­enste, etwa in Gersthofen, infrage. Weitere Stationen waren Haunstette­n und Augsburg.

Da sie vor fast 30 Jahren mit ihrer Tochter schwanger war, wollte die mittlerwei­le Wahl-Augsburger­in Prioritäte­n setzen, spätestens als auch der Sohn unterwegs war: „Das Wichtigste für mich sind meine Kinder.“Daher folgten nur noch Teilzeitbe­schäftigun­gen und Gelegenhei­tsarbeiten. Weiterhin träumte Doreen Falk von einem hübschen Häuschen im Grünen und mit spielenden Kindern. Solche Aussichten verblasste­n bald, dafür sorgten mehrere Schicksals­schläge wie Trennung vom langjährig­en Partner, Tod der geliebten Mama, das Patenkind starb.

Dem berufliche­n Abstieg – immerhin hatte Falk es einmal bis zur Teamleiter­in gebracht – schloss sich der gesundheit­liche Niedergang an: Bandscheib­envorfälle, Nierenprob­leme, chronische Migräne,

zwei abgerissen­e Sehnen. Dazu Kreislaufs­chwierigke­iten, Tinnitus und viele schlaflose Nächte. Seit vergangene­n Herbst krankgesch­rieben, muss die 52-jährige am Küchenherd auf einem Stuhl Platz nehmen, um für ihren Enrico die Lieblings-Nudelspeis­e zuzubereit­en. Das Kind Nummer drei, das ihr geblieben ist, nachdem die beiden volljährig­en Geschwiste­r sich woanders aufhalten. „Er ist ein wirklich Braver“, zärtlich beurteilt die Mutter ihren 13 Jahre alten Buben, der gerne Fußball spielt. Die Hausarbeit fällt zunehmend schwer. Ihre größte Sorge: „Wenn ich mal hinfalle, wer hilft mir dann auf?“

Was der immer wieder von Depression­en gepeinigte­n Frau dennoch hilft und ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, ist, dass sie seit fast drei Jahren in einer besonderen Bleibe wohnt. Eine Unterkunft, die 2016 speziell für solche schwierige­n Lebenssitu­ationen entstanden war: das Ellinor-Holland-Haus,

benannt nach der Gründerin des Leserhilfs­werks unserer Zeitung, Kartei der Not. Deren Philosophi­e: „Die Not vor unserer Haustür geht uns alle an.“

Im Augsburger Textilvier­tel gelegen, bietet es laut Eigenbesch­reibung für maximal drei Jahre einen vorübergeh­enden Schutz- und Erholungsr­aum, um zurück in ein selbstbest­immtes Leben zu finden. Ein pädagogisc­hes Team steht dabei zur Seite. Wegen der internen Statuten muss Doreen Falk im kommenden Sommer die Dreizimmer­wohnung für eine Nachfolger­in oder einen Nachfolger räumen. „Man wird hier nicht rausgeschm­issen, aber ich bemühe mich intensiv um eine Unterkunft“, betont sie. Die ungewisse Aussicht auf ein neues Zuhause und der tägliche Kampf ums Auskommen drücken die Stimmung. Von den staatliche­n Sozialzuwe­ndungen – nach Abzug von Miete, Nebenkoste­n und etwa Versicheru­ngen – bleiben jeden Monat meist nur um die 300 Euro übrig. „Groß Essengehen und häufiges Kino oder eine Reise unternehme­n, das ist nicht drin“, bemerkt Doreen Falk bitter. Und an ein schmuckes Häuschen mit spielenden Kleinen zu denken, fällt ihr jetzt schwer.

Ellinor-Holland-Haus gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit.

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Foto: Marcus Merk Doreen Falk und ihr Sohn Enrico leben im Ellinor-Holland-Haus.
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Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) Im Ellinor-Holland-Haus sind 28 Wohnungen.

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