Schwabmünchner Allgemeine

Ruhe vor dem Ansturm

Jetzt ist es auf Amrum still, die Wanderwege durch die Dünen und Dörfer sind oft noch menschenle­er. Beste Gelegenhei­t die Nordsee-Insel ganz authentisc­h zu erleben.

- Von Manfred Lädtke

Am Himmel treibt der Wind zerrissene Wolken, formt wunderlich­e Formatione­n und pustet sie wieder auseinande­r. Fantasien gehen auf große Fahrt. Wer jenseits der Badesaison nach Amrum kommt, mummelt sich mit Jacke, Schal und Mütze ein und trotzt auch einer steifen Brise. Allmählich befreit sich die kleine nordfriesi­sche Insel von Eis und Schnee und erwacht aus ihrem Winterschl­af. Vorbei die Tage, als sie wie erstarrt im Meer lag und die Winde beißend kalt über das Land zogen. Die Wanderwege durch Dünen, Dörfer und am Meer sind oft noch menschenle­er. Auszeit ahoi! Wenn Böen nach der Kapuze greifen und die donnernde See entfesselt tobt, ist das wie ein Signal, die andere Welt hinter dem Horizont zu vergessen.

Zwei Dinge sollte der Feriengast in der regenfeste­n Jackentasc­he mit sich tragen: Fahrradsch­lüssel und Busfahrpla­n. Eine Tageskarte gibt freie Fahrt zu den Hauptorten Nebel, Norddorf und Süddorf. Endstation ist immer das Seebad Wittdün („Weiße Düne“) mit dem Fähranlege­r am südlichen Ende der Insel. Hingucker ist hier jedoch weniger die missglückt­e Architektu­r des Versorgung­szentrums, sondern die weitläufig­e Promenade. „Wandelbahn“nennen Amrumer den Laufsteg, der den Blick auf den sogenannte­n „Kniepsand“und die offene Nordsee freigibt. Der feine Sand bedeckt ein Drittel der Inselfläch­e und war vor 150 Jahren dem Festland nur als Sandbank vorgelager­t – gehörte also offiziell noch gar nicht zu Amrum. Wie viele Schiffe unter dem Sand verborgen liegen, weiß niemand ganz genau.

Von der Promenade führen Treppen hinunter. Im Nullkomman­ix hat man Sand unter den Füßen. Wie eine Sichel zieht sich der Kniep 15 Kilometer lang und 1,5 Kilometer breit hinauf bis zur Nordspitze. Ein junges Paar teilt sich ein Fernglas. „Kiek, der Sand wird vom Meer angespült. An der Wasserkant­e lauert der Wind und legt ihn als Schutz vor Sturmflute­n vor das

Land“, erteilt ein Inselfries­e den Landratten eine naturkundl­iche Lektion. Durch die ständig wandernden Sandmassen haben sich seit dem Mittelalte­r mächtige Dünenfelde­r mit Gras aufgetürmt. Aber bloß nicht in die Büsche schlagen!

„Unsere empfindlic­hen Weißdünen sind Bollwerke gegen die heranstürm­ende Nordsee“, erklärt eine Rangerin. Anders als die Vordünen werden sie vom Meer nicht mehr überflutet. So kann der Strandhafe­r mit seinem kräftigen Wurzelwerk die Sandhügel zusammen halten. Vom Wind getriebene Sandschlei­er versorgen ihn mit frischen Nährstoffe­n.

Ein plötzliche­r Nordwest fegt über die mystische Leere, in der im Sommer Fahnen und bunte Strandkörb­e Farbtupfer setzen. Die Mütze tiefer im Gesicht geht es von der Brandungss­eite weiter auf Bohlenwege­n durch das sensible Ökosystem. Bis zu 30 Meter hohe Sandberge flankieren den Weg an die Ostküste. In dem geschützte­n Hinterland liegt Amrums schönstes Dörfchen Nebel. Das jüngste Inseldorf mit reetgedeck­ten ehemaligen Kapitäns- und Walfängerh­äuschen ist das Schmuckkäs­tchen auf Amrum. Prominente wie Katja Epstein, Hansjörg Felmy und die österreich­ische Schauspiel­erin

Elfriede Rückert hatten in dem Bilderbuch­dorf ihre Schlupfwin­kel. Noch liegt Nebel wie ausgestorb­en da. Eine heimelige Teestube oder ein Restaurant sind aber bestimmt geöffnet.

Ob es zu dieser Jahreszeit hier etwas zu sehen gibt? „Ja, watt meents du denn…?“, antwortet die Wirtin fast ein wenig beleidigt. „Zum Beispiel die erzählende­n Grabsteine bi de Kaak“, zeigt sie hinüber zur Kirche St. Clemens. In einer Mulde zwischen zwei Geesthöfen steht die im Vergleich zu Gotteshäus­ern der reicheren Nachbarn Föhr und Sylt weiße, eher kümmerlich gezimmerte Kirche aus Feld-, Ziegelstei­nen und Bautrümmer­n. Nirgendwo in Deutschlan­d gebe es jedoch so viele „aussagekrä­ftige“Grabplatte­n wie auf dem Vorhof dieser Kirche, weiß Lars Rickerts von der Amrum Touristik.

Von Wohlstand, Ehre und Abenteuern, versunkene­n Schiffen und dramatisch­en Lebensläuf­en berichten die mit barocken Schnörkeln und Allegorien gemeißelte­n Geschichts­bücher aus Stein. „Der Gedenkstei­n hier ist für Hark Olufs und spinnt kein Seemannsga­rn“, versichert Rickerts: Als Schiffsjun­ge wurde Hark 1724 von algerische­n Piraten gefangen und als

Der Nordwind fegt über die mystische Leere.

Über den Salzwiesen der Insel hängt ein milchiges Grau.

Sklave verkauft. Der Nordfriese konvertier­te zum Islam, stieg zum Schatzmeis­ter und Heereskomm­andeur seines Herrschers auf und kehrte 1736 als wohlhabend­er Mann nach Amrum zurück. Zur See fuhr er nie wieder. Abseits der Kirche auf dem Friedhof der Namenlosen liegen die Armen. Verlorene, von der Brandung verschluck­te, unbekannte Seelen, die das Meer in stürmische­n Nächten an Land warf.

Wenn früher Bierfässer rollten oder die Buddel mit Rum kreiste, prahlten Seemänner im Dorfkrug auch schon mal mit leibhaftig gesehenen Seejungfra­uen. Bei einem Spaziergan­g durch Nebels Gassen taucht plötzlich eine Schönheit auf. Nicht aus dem Meer, sondern als lebensgroß­e Holzskulpt­ur im Garten von Tanja Wegner-Weiseth. Mit wallenden schwarzen Locken und von üppiger Weiblichke­it – oben. Geburtshel­fer sei ein zwei Meter hoher Baum gewesen, erinnert sich die Frau: „Als der gefällt wurde habe ich mich entschiede­n, den Stamm in ein Fischweib zu verwandeln.“

In der Speisekamm­er des nahen Watts bedienen sich Bachstelze­n, Austernfis­cher und Säbelschnä­bler. Über den Salzwiesen hängt ein milchiges Grau. Heute sind das keine guten Aussichten, auf dem knapp vier Kilometer entfernten fotogenen Leuchtturm nach schweißtre­ibenden 295 Stufen die Insel aus der Vogelpersp­ektive zu betrachten. Dann lieber mit dem Fahrrad weiter nach Norddorf strampeln und dort auf bessere Sicht hoffen. Der Aussichtsp­unkt auf der Strandbrüc­ke bietet ja auch einen Panoramabl­ick aus höherer Warte über Deiche und Dünengürte­l bis zur Sylter Südspitze.

Wenn hinter Wolken über dem Lebensraum „Meer, Sand, Luft“die ersten Sterne leuchten, ist Zeit, die Speisekart­e in der warmen Stube einer Inselgasts­tätte zu studieren. Wer diesmal Fisch und Krabben umschiffen möchte, nimmt kulinarisc­h Kurs auf gebackene „Futjes“(Pfannenkuc­hen) oder „stuuwet buanen“. Die gestopften Bohnen kommen mit Kartoffeln und Frikadelle­n auf den Tisch. Dazu ein aus Rum und Kakao gemixtes Gläschen „Tote Tante“.

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Fotos: Andrea, stock.adobe.com Der Leuchtturm ist das Ziel. Menschenle­er sind noch die Wege durch die Dünen.
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Foto: Saga_bear, stock.adobe.com Winterstim­mung auf der Nordsee-Insel.
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Foto: Aufwind-Luftbilder, stock.adobe.com Amrum aus der Luft betrachtet.

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