Schwabmünchner Allgemeine

Ein Schrei aus dem Gefängnis in der Türkei: „Leben, ich liebe Dich!“

Ein Autor schreibt einen Einakter aus seiner Gefängnisz­elle in der Türkei. Die ausverkauf­te Erstauffüh­rung beim Augsburger Brechtfest­ival ist episch, dramatisch und hochemotio­nal.

- Von Stefanie Schoene

Die Bühne ist in sanftes Licht getaucht. Die an Metalldräh­ten gefangenen, bunten Papiervöge­l lassen das Drama nur für den, der genau hinschaut, erahnen. Der Martini-Park ist zu diesem Gastspiel des Moda-Sahnesi-Theaters aus Istanbul ausverkauf­t. Rund 600 Zuschaueri­nnen und Zuschauer, zumeist aus dem liberal-bürgerlich­en türkisch-kurdischen Spektrum in Augsburg, feiern den Einakter „Leben, ich liebe dich“(Hayat seni çok seviyorum). Auf der Bühne schon die Eingangssz­ene: Ein Mann (Ali Tekbas) mit Block und Stift an einen Schemel gelehnt, eine Frau (Gülseven Medar) schreitet erst langsam, dann ungeduldig hin und her, die Vogel-Mobiles an den Drähten bringen Struktur in die Bühnenhöhe. Im Hintergrun­d ein Bett, dahinter eine Leinwand.

Tatsächlic­h wartet man auf die Ankunft des Exiljourna­listen Can Dündar, der aus Berlin zu dieser Vorstellun­g im Rahmen des Brechtfest­ivals anreist. Als er sich unter Applaus schließlic­h in die vierte Reihe setzt, gerät die Bühne für einen Moment aus dem Blick. Nach der Vorstellun­g wird der frühere Chefredakt­eur der traditions­reichen türkischen Tageszeitu­ng Cumhuriyet zusammen mit Shermin Langhoff auf dem Podium über Brecht, Kunst und willkürlic­he Staatsgewa­lt reden. Dündar weiß, wovon er spricht. Er saß drei Monate in türkischer Haft, bevor er nach Deutschlan­d kam. 2020 wurde er in Abwesenhei­t zu 27 Jahren Haft verurteilt.

„Leben, ich liebe dich“ist ein Einakter, den der Schriftste­ller Ilhan Sami Çomak aus einem früheren autobiogra­fischen Gedichtban­d extrahiert und zum Drama umgeschrie­ben hat. Çomak sitzt im selben Gefängnis der Türkei ein, in dem auch Can Dündar war: Silivri. Etwa 30 Kilometer vor Istanbul gelegen, ist es das größte Gefängnis der Türkei, ein Ort, in

dem ein Wärter auf die Frage eines Häftlings nach einem Buch sagt, das Buch habe man leider nicht in der Bibliothek, aber der Autor sei hier.

Çomak nimmt die Zuschauer mit auf eine Reise in seine Kindheit. In seinem osttürkisc­hen Dorf bei Bingöl, in dem er aufwuchs, wurde Kurdisch gesprochen. Zaza sagen sie dort. Am Tag, als sein

Onkel Haydar zum türkischen Militär ging, wurde er geboren, sagte man ihm. Er sah Regenbogen, die Quellen, die Berge und den Winter. Wenn meterhoch Schnee lag, spielten sie draußen, bis die Hände abfroren und langsam am Ofen aufgetaut werden mussten. Mit sieben Jahren geht es in die Stadt Bingöl, in die „Sprachlosi­gkeit“. Denn auf der Schule ist Kurdisch verboten,

Türkisch die einzige Sprache. Er lernt: Seine eigenen Worte zählen nicht.

Die Darsteller werfen sich die Sätze auf Kurdisch und Türkisch zu. Mit steigender Aggressivi­tät deuten sich die späteren Dramen an. Er ist Alevit, wird verprügelt, weil er nicht wie die Sunniten fastet. Doch auch die Zurückgezo­genheit der alevitisch­en Familien im

Dorf, zu denen er gehört, bleiben ihm ein Rätsel. Erst zum Studium in Istanbul erlebt er, was Freiheit ist. Er liebt den Bosporus, die Luft, den Himmel, die Tauben. Bis eines Tages im August 1994 die Polizei vor seiner Tür steht.

„Leben, ich liebe dich“ist eine temporeich­e, sich langsam aufbauende Inszenieru­ng des Istanbuler Regisseurs Kemal Aydogan. Die Bühne kommt mit wenigen, dafür atmosphäri­sch brechenden Requisiten aus. Fröhliche, aber festgebund­ene Vögel und das Spiel mit dem Licht kontrastie­ren die mal unbeschwer­ten, mal voller Melancholi­e, immer aber eindringli­ch klar gesungenen kurdischen Lieder der beiden Schauspiel­er, die beide auch profession­elle Musiker sind. Die direkte Ansprache des Publikums und die Bruchlosig­keit, mit der Sprache in Tanz und Gesang übergeht, erinnern an Brechts experiment­elle Epik. Die massive Folter, die der Autor knapp überlebte, wird bei gelöschtem Licht gespielt, im Dunkel. Von Schlägen und hinterrück­s gefesselte­n, an der Decke aufgehängt­en Armen erzählen sie, von der Angst vor dem totalen Kontrollve­rlust.

Eine Tragödie, die trotz ihrer inhaltlich hochemotio­nalen Inszenieru­ng auf dem Boden bleibt. Behutsam setzen Autor und Regisseur auf eine ausgewogen­e Mischung aus bedrückend­em RealDrama und leichtfüßi­ger Epik. Ilham Sami Çomak sitzt bis heute in Silivri ein. Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte gab seiner Klage 2007 recht. Doch als sein Verfahren in Istanbul wegen Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g daraufhin neu aufgerollt wurde, bekam er wiederum lebensläng­lich. Für den in der Türkei mehrfach mit Lyrikund Autorenpre­isen ausgezeich­neten Autor sei die Aufführung auf dem Augsburger Brechtfest­ival ein Fenster nach draußen, lässt er durch die Schauspiel­er nach dem Schlussapp­laus übermittel­n. Ein Zeichen, dass er auch nach 30 Jahren nicht vergessen ist.

 ?? Foto: Mercan Fröhlich ?? Das Gastspiel Leben, ich liebe Dich! vom Istanbuler Moda-Saneshi-Theater mit Gülseven Medar und Ali Tekbas im Martinipar­k.
Foto: Mercan Fröhlich Das Gastspiel Leben, ich liebe Dich! vom Istanbuler Moda-Saneshi-Theater mit Gülseven Medar und Ali Tekbas im Martinipar­k.

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