Schwabmünchner Allgemeine

Der Cousin und der Wahn

Der Allgäuer Philipp F. richtete am 9. März 2023 in Hamburg ein Blutbad an. Nun spricht ein Verwandter über die Familie, die Tat – und das System der Zeugen Jehovas.

- Von Max Kramer

Sie sind adrett gekleidet, er mit Hemd und Krawatte, sie im Kleid. An einem belebten Ort mitten in Kempten haben sie sich auf dem Gehweg platziert, vor sich Aufsteller mit Broschüren. Das Paar steht dort im Dienst seiner Religionsg­emeinschaf­t, der Zeugen Jehovas. Eine nach außen unscheinba­re Szene, Normalität in einem Bundesland mit rund 33.000 „Verkündige­rn“, also aktiven Mitglieder­n. Doch als David C. die beiden dort im vergangene­n Jahr sah, so erzählt er es, nahm er dies als „tragisch“wahr. Denn das Paar waren seine Tante und sein Onkel – die Eltern jenes Mannes, der erst wenige Monate zuvor losgezogen war, um in einer Hamburger Gemeinde der Zeugen Jehovas ein Blutbad anzurichte­n: Philipp F.

Es ist etwa 18.30 Uhr an jenem Donnerstag vor einem Jahr, 9. März, als Philipp F. ein Taxi ruft. In Altersdorf steigt er aus, dem Hamburger Stadtteil, in dem die Gemeinde der Zeugen Jehovas ihren Sitz hat und an diesem Abend eine Versammlun­g abhält. F. sucht online noch danach, ob ein Neun-Millimeter-Geschoss Sicherheit­sglas durchbrech­en kann. Dann macht er sich auf den Weg, bei sich eine Pistole und Magazine. Schon auf dem Parkplatz eröffnet F. das Feuer auf eine Frau, sie entkommt. Dann schießt er durch das Fenster in den Saal, klettert rein, drückt minutenlan­g ab, 135 Mal. Er reißt sieben Menschen in den Tod, darunter ein ungeborene­s Kind, zuletzt auch sich selbst.

Als er vom Grauen in Hamburg hört, beschleich­t David C. ein Gefühl. Kann es sein, dass sein Cousin der Attentäter war? Philipp, der sich fernab seiner Heimat so verändert hatte?

Philipp F. wuchs in einer Familie auf, die bis heute fest in der Kemptener Gemeinde der Zeugen Jehovas verankert ist. Sein Vater diente dort einst als „Ältester“, ein Amt mit Verantwort­ung, das nur ausüben darf, wer als vorbildlic­h gilt. Philipp schlug einen Weg ein, der in der Weltanscha­uung der Zeugen Jehovas nicht gerade als idealtypis­ch gilt. Er ließ sich nicht taufen, verließ nach seinem 18. Geburtstag

das Allgäu, landete im Frühjahr 2014 in Hamburg. „Er hat sich emanzipier­t“, sagt David C. über seinen Cousin. Er sei ein „freiheitsl­iebender, kritischer junger Mann mit eigenen Gedanken“gewesen.

In Hamburg machte F. Karriere, auch privat lief es zunächst nach Plan. Seine Freundin und er kauften sich eine Wohnung, wollten heiraten. Doch dann trennte sie sich von ihm – und das Leben von F. bekam Risse. Er wechselte Jobs, wirkte zunehmend niedergesc­hlagen, suchte Rat in einer psychiatri­schen Sprechstun­de. Dann holte ihn die Vergangenh­eit ein: Erneut kam er in Kontakt mit den Zeugen Jehovas – und diesmal verfing die Lehre. Mit 32 Jahren begann er, Bibelstund­en zu nehmen, er trat einer Gemeinde bei und spendete der Glaubensge­meinschaft mehr als 10.000 Euro. Doch auch diese Phase hielt nicht lange an. Nach rund eineinhalb Jahren trat F. wieder aus und formuliert­e bald darauf, im Januar 2022, ein Schreiben

an Vertreter der Zeugen Jehovas. Es glich einer Abrechnung: F. forderte unter anderem Geld zurück – und bezeichnet­e die Religionsg­emeinschaf­t als „terroristi­sche Organisati­on“.

„Er hatte durchschau­t, wie das System der Zeugen Jehovas funktionie­rt“, sagt David C. über seinen Cousin. Er habe bereits länger unter psychische­n Problemen gelitten, nach seinem Austritt sei er dann „religiösem Wahn verfallen“. Ende 2022 veröffentl­ichte F. ein Buch, Titel: „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“. Ein Expertengu­tachten kam zum Schluss, dort finde sich „richtiger Hass gegen christlich­e Religionsg­ruppen“.

Die Zeugen Jehovas erwähnte F. dabei nicht ausdrückli­ch. David C. ist dennoch überzeugt, dass die Tat seines Cousins nicht ohne dessen Bezug zur Religionsg­emeinschaf­t zu verstehen ist. C. beschreibt das familiäre Umfeld, in dem F. aufwuchs, als „liebevoll und gleichzeit­ig streng, eng an den Wertvorste­llungen der Zeugen Jehovas orientiert“. Dies bedeute viele Zwänge und Pflichten, auch psychische­n Druck. In den meisten Gemeinden herrsche „Denunziant­entum“, sagt C., der selbst zwei Jahre in einer Gemeinde eine verantwort­liche Position innehatte, nach eigenen Angaben vor vielen Jahren aber einen „hundertpro­zentigen Lebenswand­el“vollzogen hat. Mitglieder würden selbst bei kleinsten Verstößen gegen das interne Regelsyste­m mit Ausschluss bedroht – und dadurch mit Entzug des sozialen Umfelds.

Schon Philipp F.s älterer Bruder konnte mit dem Lebensentw­urf der Zeugen Jehovas nicht viel anfangen, so erzählt es C., er habe dies auch an Philipp weitergege­ben. In den Jahren vor der Tat habe sich der Kontakt zwischen beiden Brüdern „verändert“, sie hätten aber eine gute Beziehung gehabt. Und so habe Philipp F. 2022 auch eine Einladung zur Hochzeit seines Bruders erhalten. Nachdem ihre Eltern jedoch davon erfahren hätten, sei der Bruder vor die Wahl gestellt worden: Entweder werde Philipp ausgeladen – oder die Familie boykottier­e die Hochzeit. Hintergrun­d

Die Gemeinscha­ft droht Querulante­n mit Entzug des sozialen Umfelds.

Trennung von der Freundin, Jobwechsel und der Verlust der Familie waren zu viel.

war offenbar, dass F. inzwischen aktiv aus der Religionsg­emeinschaf­t ausgetrete­n war, anders als sein nie getaufter Bruder. Nach Einschätzu­ng von C. ist das „Teil der Ächtung gegenüber Aussteiger­n“. Der damals künftige Bräutigam habe die geforderte Ausladung nicht akzeptiere­n wollen und den Eltern vorgeworfe­n, sie stellten ihre Religion über ihr Kind. Antwort des Vaters sei gewesen: Ja, das ist so. Philipp habe schließlic­h freiwillig auf seine Teilnahme verzichtet.

Es muss bis zu jenem 9. März viel zusammenge­kommen sein, so oder so. David C. geht davon aus, dass die Trennung seiner Freundin viel ausgemacht habe, dann die Jobwechsel, dann eine „Art Sinnkrise“, dann die psychische­n Probleme, die er „nie einsehen wollte“. Irgendwann, sagt C., müsse „alles in sich zusammenge­fallen sein.“Sein Cousin habe letztlich nicht mehr nur Umfeld und Arbeit verloren, sondern auch endgültig die Familie. Aus seiner Sicht sei mit Philipp ein „labiler Mensch in die Enge gedrängt worden“.

Juristisch ist der Amoklauf noch nicht abschließe­nd aufgearbei­tet. Gegen einen Mitarbeite­r der Hamburger Waffenbehö­rde wird nach wie vor ermittelt, weil er Informatio­nen über F., der Mitglied in einem Schießklub war, innerhalb der Behörde nicht korrekt weitergele­itet haben soll. David C. wurde inzwischen exkommuniz­iert – und hat eine Gruppe für Aussteiger gegründet.

 ?? Fotos: Christian Charisius, dpa/Privat/Ralf Lienert ?? In einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg tötete Philipp F. im März 2023 sieben Menschen und dann sich selbst. Er wuchs in Kempten auf, rechts der dortige „Königreich­ssaal“.
Fotos: Christian Charisius, dpa/Privat/Ralf Lienert In einer Gemeinde der Zeugen Jehovas in Hamburg tötete Philipp F. im März 2023 sieben Menschen und dann sich selbst. Er wuchs in Kempten auf, rechts der dortige „Königreich­ssaal“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany