Ewald Arenz: Alte Sorten (Beginn)
Roman von Ewald Arenz
Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgängerinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiedenheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrscht reagiert.
© 2019 DuMont Buchverlag, Köln
Sie kannte diesen Ton und diesen Blick, und er ging ihr auf die Nerven. Er sagte nichts, sondern ging aufs Wasser zu. Peter folgte ihm. Ihre gute Stimmung war auf einmal verflogen. Das konnte er gut. Früher war es andersherum gewesen. Da hatte er die Leute mitgerissen, begeistert, seine sprühende Laune hatte die anderen elektrisiert.
Es war, als konnte er es nicht ertragen, wenn andere seinen Optimismus, seine Unbekümmertheit nicht teilten, und deshalb gab er keine Ruhe, bis alle ebenso empfanden. Aber so war es auch, wenn er schlecht gelaunt war, mürrisch, aus unerfindlichen Gründen ärgerlich. Dann zog er alle zu sich hinunter.
Kalt!
Peter stand bis zu den Knien im Wasser und zog die Beine hoch, wenn eine kleine Welle ihn traf. Ach was!
Sonny spritzte ihn an. Nein!, krähte Peter. Nicht. Lass ihn.
Was? Das Wasser ist brühwarm! Er soll sich nicht so anstellen.
Sonny spritzte ihn erneut an. Peter weinte fast.
Spritz zurück.
Liss spritzte Sonny an. Peter sah einen Augenblick zu, dann spritzte er auch.
Lass das! Peter, ich warne dich! Der Kleine hatte Gefallen an dem Spiel gefunden. Vergessen war, dass er eben noch das Wasser kalt gefunden hatte. Sie standen im Schlamm, und er warf mit beiden Händen Wasser auf seinen Vater.
Peter!
Liss lachte. Peter bückte sich und kam hoch, die Hände voller triefendem Schlick und warf damit nach Sonny. Sonny machte zwei Schritte durch das Wasser und schlug zu. Peter fiel um. Liss stand eine Sekunde wie starr.
Spinnst du? Spinnst du?, schrie sie, während sie Peter aufhob, der nicht einmal weinte, weil er gar nicht verstand und weil er Wasser geschluckt hatte, dann spuckte und hustete.
Bist du krank? Bist du… was war das denn?
Ich habe ihn gewarnt. Sonny stand da, kalt und fremd, und sie war völlig fassungslos und dabei so wütend wie nie zuvor.
Du hast ihn gewarnt? Er ist sieben! Er ist ein Kind!
Er muss hören.
Du hast ihn richtig umgehauen! Der Junge weinte jetzt richtig. Auf seiner Wange begann sich Sonnys Hand rot abzuzeichnen.
Liss fühlte, wie ein Zorn in ihr hochstieg, den sie kaum noch aushielt. Sie trat dicht vor Sonny hin.
Du schlägst mein Kind nicht. Nie wieder!
Sonny schlug ihr auf den Mund. Es war windig, aber nicht kalt. Gut für den Wein, dachte sie automatisch, die Beeren würden rechtzeitig abtrocknen und nicht faulen. Bei dem Gedanken blieb sie stehen. Immer noch dachte sie so. Warum hörte das nicht auf? Es hatte doch keine Bedeutung mehr. Die Beeren würden sowieso am Stock verfaulen, wenn sich nicht jemand traute, sie zu ernten.
Das geht mich alles nichts mehr an, dachte sie, es hat keine Bedeutung mehr. Und dass sie solche Gedanken hatte, war nur noch ein Grund mehr. Noch ein Beweis dafür, dass sie in einem Leben gefangen war, das von Anfang an falsch gewesen war und dem sie nie hatte entkommen können. Sie lehnte sich an das raue Holz des Schuppens. Als Kind hatte sie von all den griechischen Sagenhelden Achill am meisten fasziniert. Er war so zornig, wie sie immer sein wollte, so stark und so tödlich. Und immer wieder, wenn die Stelle kam, wo der Pfeil seine Ferse traf und ihn fällte, immer wieder hatte sie dann weinen müssen. So fühlte sie sich, seit sie sie wieder auf die Polizei mitgenommen hatten. Nein, korrigierte sie sich im Stillen, so fühlte sie sich, seit das Mädchen fort war. Als hätte man ihr die Sehnen durchgeschnitten. Dann nützte einem alle Stärke nichts. Die Muskeln waren auf einmal sinnlos, denn es gab nichts mehr, worauf sie ihre Kraft hätten übertragen können. Äußerlich war sie noch stark, aber das nützte nichts mehr. Sie war gefällt worden.
Sie ging zum Hühnerstall und öffnete ihn. Die Hühner kamen gackernd heraus – sie waren fast zwei Tage eingesperrt gewesen. Liss sah ihnen zu, wie sie sich auf der Suche nach Futter im Hof und im Garten aufgeregt zerstreuten. Hühner konnten auch ohne Kopf noch herumlaufen. Sie hatte das mehr als einmal gesehen, wenn ihre Mutter ein Huhn geschlachtet hatte. Noch so ein Bild. Wenn der Kopf weg war, dann fühlten die nichts mehr. Aber irgendwie konnten sie noch laufen, ohne umzufallen. Ohne zu sehen und zu hören und zu fühlen. Im wahrsten Sinne des Wortes eine sinnlose Existenz. Sie sah hoch. Der Himmel war blau gefegt, zerrissene Wolken zogen nach Osten. Als Kind hatte sie solche Tage insgeheim Seefahrerwetter genannt. Wie ein Segel hatte sie sich gefühlt, wenn sie sich auf die leeren Felder gestohlen hatte und die Arme ausgebreitet und gespürt hatte, wie der Wind sie wegtragen wollte. Und jetzt? Sie sah in den Himmel und spürte nichts mehr. Nicht einmal die Sehnsucht. Innen war sie schon tot.
Sie rangierte den Hänger mit dem Holz in die Scheune, kuppelte den Traktor ab und stellte ihn daneben. Sie ging durch den Hof und räumte die Geräte an ihren Platz.