Was die SPD von der Ostpolitik Willy Brandts unterschlägt
Rolf Mützenich wird wegen seiner Forderung, den Ukraine-Krieg „einzufrieren“, an den Pranger gestellt. Sein Vorstoß greift zu kurz, doch die Debatte muss erlaubt sein.
Rolf Mützenich hat etwas ausgesprochen, was nicht ausgesprochen werden darf. Nämlich, dass der Krieg in der Ukraine mit hoher Wahrscheinlichkeit unter hohen Gebietsverlusten für das angegriffene Land zu einem Ende kommt. Dieses Ende ist nicht gleichbedeutend mit Frieden und Aussöhnung zwischen Angreifern und Überfallenen, sondern es heißt zunächst, dass die Waffen schweigen. Es hieße auch, dass Wladimir Putin unter enormen Verlusten gewonnen haben würde, aber was zählt schon ein Menschenleben in Russland.
Mützenich stellt die Frage, ob es nötig ist, noch Tausende junge Männer auf beiden Seiten der Front in den Fleischwolf zu schicken, wenn es am Ergebnis wenig ändert. Der SPD-Fraktionsvorsitzende richtet einen Scheinwerfer auf den blinden Fleck, der hinter dem Nebel der politischen Rhetorik seines Chefs – Bundeskanzler Olaf Scholz – verschwindet. Dass Mützenich dafür öffentlich gekreuzigt wird, erinnert fatal an die üble Debattenkultur während der Coronapandemie.
Der Kanzler spricht davon, dass die Ukraine diesen Kampf nicht verlieren dürfe. Doch zugleich fürchtet Scholz, dass der Westen hineingezogen werden könnte in die Schlacht und ein dritter Weltkrieg ausgelöst wird, in dem Russland womöglich seine Atombomben einsetzt. Auch die USA senden Kiew viele Waffen, aber in ihren Beständen fände sich für ukrainische Gegenschläge noch sehr viel mehr des dafür erforderlichen Kriegsgeräts.
Weder der deutsche Kanzler noch der US-Präsident haben jemals ausbuchstabiert, wie die Nachkriegsordnung aussehen könnte, wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, was derzeit wahrscheinlich ist. Ohne Antwort auch die drängende Frage, wie dem imperialistischen Hunger des Wladimir Putin nach den Ländern der zerfallenen Sowjetunion Einhalt geboten werden könnte.
Genau diese Leerstelle hat auch Rolf Mützenich nicht ausgefüllt, obwohl er als Außenpolitiker die Lehren aus dem Münchner Abkommen mit Hitler kennt. Die ausgesprochenen Sicherheitsgarantien für die Ukraine wären ohne den Beitritt des verbleibenden Territoriums zur Nato genauso wertlos, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg die Garantien für die RestTschechoslowakei waren. Allerdings ist eine Aufnahme der Ukraine in die Nato schlechterdings undenkbar. Es bliebe dann nur die Option, das Land bis unter die Zähne mit Waffen auszustatten und die alliierten Truppen im Baltikum massiv aufzustocken, sodass der Kremlherr keinen zweiten Frontalangriff wagt.
Dass der Aufruf zu einen Waffenstillstand aus den Reihen der SPD kommt, ist wenig überraschend. Gehört doch die Aussöhnung mit Russland nach dem Weltkrieg und die Ostpolitik Willy Brandts zum sakralen Parteierbe. Vergessen haben die Genossen, dass Brandt aus der Position der Stärke auf die Sowjetunion zuging. Seinerzeit gab Deutschland in der Relation zur Wirtschaftsleistung doppelt so viel Geld für die Bundeswehr aus wie heute.
Dass Deutschland und Europa sich rüsten müssen, und zwar massiv, wäre die Kehrseite eines Einfrierens des Ukraine-Konflikts. Dies bleibt Mützenich schuldig. Er entspricht damit der verbreiteten Mentalität in Deutschland. Über die Jahrzehnte hat sich die Gesellschaft von einer militärisch-preußischen zu einer postheroisch-hedonistischen gewandelt. Der Mentalitätswechsel zu mehr Wehrhaftigkeit muss Teil der von Scholz ausgerufenen Zeitenwende sein.
Die Aussöhnung mit Russland gehört zum Parteierbe.