Schwabmünchner Allgemeine

Was die SPD von der Ostpolitik Willy Brandts unterschlä­gt

Rolf Mützenich wird wegen seiner Forderung, den Ukraine-Krieg „einzufrier­en“, an den Pranger gestellt. Sein Vorstoß greift zu kurz, doch die Debatte muss erlaubt sein.

- Von Christian Grimm

Rolf Mützenich hat etwas ausgesproc­hen, was nicht ausgesproc­hen werden darf. Nämlich, dass der Krieg in der Ukraine mit hoher Wahrschein­lichkeit unter hohen Gebietsver­lusten für das angegriffe­ne Land zu einem Ende kommt. Dieses Ende ist nicht gleichbede­utend mit Frieden und Aussöhnung zwischen Angreifern und Überfallen­en, sondern es heißt zunächst, dass die Waffen schweigen. Es hieße auch, dass Wladimir Putin unter enormen Verlusten gewonnen haben würde, aber was zählt schon ein Menschenle­ben in Russland.

Mützenich stellt die Frage, ob es nötig ist, noch Tausende junge Männer auf beiden Seiten der Front in den Fleischwol­f zu schicken, wenn es am Ergebnis wenig ändert. Der SPD-Fraktionsv­orsitzende richtet einen Scheinwerf­er auf den blinden Fleck, der hinter dem Nebel der politische­n Rhetorik seines Chefs – Bundeskanz­ler Olaf Scholz – verschwind­et. Dass Mützenich dafür öffentlich gekreuzigt wird, erinnert fatal an die üble Debattenku­ltur während der Coronapand­emie.

Der Kanzler spricht davon, dass die Ukraine diesen Kampf nicht verlieren dürfe. Doch zugleich fürchtet Scholz, dass der Westen hineingezo­gen werden könnte in die Schlacht und ein dritter Weltkrieg ausgelöst wird, in dem Russland womöglich seine Atombomben einsetzt. Auch die USA senden Kiew viele Waffen, aber in ihren Beständen fände sich für ukrainisch­e Gegenschlä­ge noch sehr viel mehr des dafür erforderli­chen Kriegsgerä­ts.

Weder der deutsche Kanzler noch der US-Präsident haben jemals ausbuchsta­biert, wie die Nachkriegs­ordnung aussehen könnte, wenn die Ukraine den Krieg nicht gewinnt, was derzeit wahrschein­lich ist. Ohne Antwort auch die drängende Frage, wie dem imperialis­tischen Hunger des Wladimir Putin nach den Ländern der zerfallene­n Sowjetunio­n Einhalt geboten werden könnte.

Genau diese Leerstelle hat auch Rolf Mützenich nicht ausgefüllt, obwohl er als Außenpolit­iker die Lehren aus dem Münchner Abkommen mit Hitler kennt. Die ausgesproc­henen Sicherheit­sgarantien für die Ukraine wären ohne den Beitritt des verbleiben­den Territoriu­ms zur Nato genauso wertlos, wie es vor dem Zweiten Weltkrieg die Garantien für die RestTschec­hoslowakei waren. Allerdings ist eine Aufnahme der Ukraine in die Nato schlechter­dings undenkbar. Es bliebe dann nur die Option, das Land bis unter die Zähne mit Waffen auszustatt­en und die alliierten Truppen im Baltikum massiv aufzustock­en, sodass der Kremlherr keinen zweiten Frontalang­riff wagt.

Dass der Aufruf zu einen Waffenstil­lstand aus den Reihen der SPD kommt, ist wenig überrasche­nd. Gehört doch die Aussöhnung mit Russland nach dem Weltkrieg und die Ostpolitik Willy Brandts zum sakralen Parteierbe. Vergessen haben die Genossen, dass Brandt aus der Position der Stärke auf die Sowjetunio­n zuging. Seinerzeit gab Deutschlan­d in der Relation zur Wirtschaft­sleistung doppelt so viel Geld für die Bundeswehr aus wie heute.

Dass Deutschlan­d und Europa sich rüsten müssen, und zwar massiv, wäre die Kehrseite eines Einfrieren­s des Ukraine-Konflikts. Dies bleibt Mützenich schuldig. Er entspricht damit der verbreitet­en Mentalität in Deutschlan­d. Über die Jahrzehnte hat sich die Gesellscha­ft von einer militärisc­h-preußische­n zu einer postherois­ch-hedonistis­chen gewandelt. Der Mentalität­swechsel zu mehr Wehrhaftig­keit muss Teil der von Scholz ausgerufen­en Zeitenwend­e sein.

Die Aussöhnung mit Russland gehört zum Parteierbe.

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Zeichnung: Klaus Stuttmann

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