Fürsorge fernab vom Fiskus
Mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland werden zu Hause gepflegt. Die Pflegekassen zahlen Betroffenen hier jedoch deutlich weniger Geld, wie wenn diese im Heim wären. Mit der Folge: Um zu sparen, holt sich so mancher Hilfe vorbei an den Behörden.
„Guten Morgen meine Liebe! Und, wie haste geschlafen?“Für die 93-jährige Maria aus Ulm beginnt seit rund zwei Jahren jeder Morgen nahezu identisch. Der junge Mann, der sie pünktlich um neun sanft aus dem Reich der Träume holt, ist Peter. So soll er hier heißen, seinen wirklichen Namen will er nicht in der Zeitung stehen haben. Die Gründe dafür lesen Sie gleich. Wie jeden Morgen streicht ihr der 35-Jährige erst für einige Minuten über die Stirn, stillt ihren Durst mit einem Glas Wasser und massiert ihr anschließend die Füße. „Sie genießt das“, sagt der gelernte Physiotherapeut. Mehr als eine Stunde dauern das Anziehen, Waschen und der Gang in die Küche, wo Peter am frühen Morgen Brot gebacken hat. Seit rund acht Jahren ist die ehemalige Erzieherin mittlerweile auf Hilfe angewiesen. Mehrere Schlaganfälle haben der 93-Jährigen zugesetzt. Selbst das Sprechen fällt ihr schwer. Und dennoch: „Sie ist eine Kämpferin“, sagt Peter. „Und Kämpfer brauchen erst mal ein gutes Frühstück! Stimmt´s?“Der Tag nimmt seinen Lauf. Pflegealltag, könnte man meinen.
Mit einem kleinen Unterschied: Peter ist weder ausgebildeter Altenpfleger noch offiziell beschäftigt. Der 35-jährige Deutsche zahlt keine Steuern, ist im Gegenzug aber auch nicht renten- und krankenversichert. Letzteres kompensiert er durch eine freiwillige Versicherung. Auch hat er keinen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn oder eine Begrenzung seiner Arbeitszeit.
Seit sie pflegebedürftig ist, organisiert Marias Sohn die Pflege für seine Mutter. Über eine Rundmail an sämtliche Freunde und Bekannte erreichte er vor knapp zwei Jahren Peter. Für den gelernten Physiotherapeuten damals eine willkommene Abwechslung. „Das 20-minütige Taktsystem in der Physiotherapie hatte ich schon länger satt.“Die Pflege daheim: Für Peter eine neue Erfahrung. „Ich wusste ganz gut, was auf mich zukommen würde.“Und Maria? Für die damals 91-Jährige gab es keine Alternative. Eine offizielle Pflegekraft: zu teuer. Der Gang ins Heim? Undenkbar für sie. Mit ihrem privat organisierten Pflegemodell ist Maria nicht allein. „Viele können sich die häusliche Pflege schlichtweg nicht leisten“, sagt Helga Stefanidis. Seit über 20 Jahren vermittelt die 55-Jährige mit ihrer Agentur Pflegekräfte aus Osteuropa an Menschen, die daheim gepflegt werden möchten. Sie schätzt, dass rund die Hälfte aller osteuropäischen Pflegekräfte in Deutschland schwarz beschäftigt werden: „Offiziell arbeiten hierzulande 600.000 osteuropäische Pflegerinnen und Pfleger. In Wirklichkeit sind es aber doppelt so viele“, ist sich die Pflegeexpertin sicher. Obwohl sie in Konkurrenz mit ihrem Pflegemodell steht, hat sie Verständnis für Menschen wie Maria. Sie weiß genau, welche Kosten mit einer häuslichen 24-Stunden-Pflege verbunden sind: „Zwischen 2400 und 3500 Euro an Eigenleistung müssen Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bei mir zahlen. Abzüglich des variablen Pflegegeldsatzes.“Dieser wiederum ist abhängig von den fünf Pflegegraden und liegt monatlich zwischen 332 Euro und 947 Euro. Wer kann sich das schon leisten? Das muss man erst mal netto im Monat verdienen.“
Stichwort verdienen: Durchschnittlich 1218 Euro bleiben einem Rentner nach Abzug aller Abgaben und Steuern hierzulande, wie jüngst eine Untersuchung der Universität Düsseldorf gezeigt hat. Frauen stehen demnach sogar nur 809 Euro netto im Monat zur Verfügung. Wie hoch Marias Rente ist, weiß Peter nicht. Nur so viel: „Für die 2000 Euro, die sie mir monatlich zahlt, reicht ihre Rente definitiv nicht aus.“Ohne die Unterstützung ihrer Kinder wäre ihre Pflege daheim so nicht möglich.
2000 Euro im Monat plus Kost und Logis erhält der 35-Jährige also für die Rundumbetreuung von Maria, ohne Abzüge. „Ausreichend“, findet er. Für den gebürtigen Hessen bedeutet das: Sieben Tage, 24-Stunden am Tag verfügbar zu sein. Ein durchschnittlicher Arbeitstag startet für ihn um neun in der Früh und endet zwölf Stunden später um neun am Abend. Wenn Maria gut schläft, kommt eine zweistündige Mittagspause dazu. „Zwei, drei Monate am Stück kann ich das leisten. Dann brauche ich aber auch mal eine Pause“, sagt er. Und Maria? „Dann wechseln sich ihre Kinder mit der Betreuung ab.“
Mit ihrem privat organisierten Pflegemodell reduzieren sich für Marias Familie die Kosten. Steuern, Versicherung und auch Sozialabgaben fallen weg. Und auch die genaue Arbeitszeit ist nicht erfasst. Bei seiner Arbeit kommt Peter „mit Sicherheit“über die 40 Wochenstunden, gibt er zu. Für den 35-Jährigen ist die Pflege von Maria aber mehr als reiner Brotverdienst: „Über die Zeit ist Maria mir so sehr ans Herz gewachsen. Ich sehe, wie sie Tag für Tag Fortschritte macht und sich darüber freut. Das ist die beste Bezahlung die man haben kann“, erzählt Peter. Im Rollstuhl habe er die 93-Jährige vor knapp zwei Jahren übernommen: „Heute gehen wir mit dem Rollator bis zur Kirche im Viertel und wieder zurück.“
Der deutsche Pflegerat warnt vor dieser Art der Beschäftigung. Dessen Präsidentin Christine Vogler erklärt warum: „Für beide Seiten kann dies schwerwiegende Konsequenzen haben. Versorgungssicherheit besteht dadurch nicht.“Unklar sei zudem „in welcher Qualität die Leistungen erbracht werden. Was geschieht, wenn die Pflegekraft krank wird? Was passiert, wenn sie einen Schaden verursacht?“Auch sei nicht auszuschließen, dass die Finanzbehörden der Steuerflucht irgendwann doch mal noch auf die Schliche kommen. „Dann drohen hohe Nachzahlungen“, warnt Vogler. Und Peter erwirtschaftet keine Anwartschaften für seine eigene Rente, muss sich selbst krankenversichern.
Eine legale häusliche 24-Stunden-Pflege lässt sich auf zwei verschiedenen Wegen organisieren: Eine Möglichkeit ist die Beauftragung einer Pflegeagentur, wie sie Helga Stefanidis betreibt. Als Vermittlerin organisiert sie die Pflegekraft, organisiert Vertretungen und verantwortet die Einhaltung aller gesetzlichen Vorgaben und pflegerischen Standards. Wer dagegen selbst alles in der Hand hat, kann eine Pflegekraft auch privat anstellen. „Allerdings mit entsprechendem bürokratischen Aufwand“, wie Vermittlerin Stefanidis zu bedenken gibt.
Und dennoch warnt auch sie vor schwarzen Schafen in ihrer Zunft: „Im Internet gibt es haufenweise Angebote, die eine offiziell angemeldete 24-Stundenpflege zu Preisen von zum Teil unter 2000 Euro anbieten. Wenn ich Mindestlohn zahle und das Arbeitszeitgesetz ernst nehme, kann ich eine häusliche Pflege für diesen Betrag nicht leisten. Den Preis zahlen hier die Pflegekräfte, oder es kommen im Nachhinein versteckte Kosten auf die Betroffenen zu“, so Stefanidis. Tatsächlich offenbart ein Blick auf die Website der Gebrauchtwarenplattform Ebay unzählige
Angebote zwischen 1600 und 1800 Euro. „Davon würde ich die Finger lassen“, rät die 55-Jährige. „Eine seriöse Pflege hat ihren Preis. Das ist einfach so.“
In der Tat: Die Kosten für die Pflege in den eigenen vier Wänden sind hoch. Und werden, im Gegensatz zur stationären Pflege, weniger stark von den Pflegekassen unterstützt. Wer zu Hause gepflegt wird, erhält Pflegegeld. Bei Pflegestufe drei von fünf bedeutet das monatlich 573 Euro. Wer sich dagegen für den Gang ins Pflegeheim entscheidet, hat Anspruch auf die sogenannte Pflegesachleistung. Ebenfalls mit Pflegestufe drei erhalten Betroffene dabei 1432 Euro monatlich. Fast das Dreifache. „Der Staat will unsere Alten ins Heim abschieben“, meint Peter dazu. Auch Vermittlerin Stefanidis kritisiert die Ungleichbehandlung zwischen den beiden Pflegeformen: „Angehörige, die ihre Eltern oder Großeltern pflegen, werden dafür bestraft, dass sie dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger nachkommen und die Pflege im vertrauten Zuhause organisieren. Häufig noch mit großem persönlichem Einsatz. Das ist für meine Begriffe skandalös.“
Als „notwendig“bezeichnet dagegen das Bundesgesundheitsministerium die finanziellen Unterschiede zwischen häuslicher und stationärer Pflege. „Würden Pflegegeld und Pflegesachleistung gleich behandelt, würden wir das gesetzlich verbindliche Sachleistungsprinzip aufgeben“, erklärt das Ministerium auf Nachfrage. Außerdem hätten Pflegeheime und ambulante Pflegedienste grundsätzlich höhere Kosten: „Steuern, Sozialabgaben und Verwaltungsausgaben.“Auch deshalb sei eine Angleichung der Unterstützungsleistungen nicht gerechtfertigt. Ganz abgesehen davon, bleibt das Problem, wer das schlussendlich alles bezahlen soll: „Um das zu finanzieren, müsste entweder der Beitragssatz drastisch erhöht, oder aber die Leistungen erheblich abgesenkt werden“, heißt es dazu beim SPD-geführten Ministerium.
Fünf Millionen Menschen sind laut Statistischem Bundesamt in Deutschland pflegebedürftig. Noch 1995 lag diese Zahl bei 1,1 Millionen. Während sich die Pflegebedürftigen also mehr als vervierfachten, stieg die Zahl der Pflegekräfte gerade mal um das Zweifache, auf mittlerweile 1,25 Millionen. Bis 2055 werden zusätzlich 1,8 Millionen Menschen mit Pflegebedarf erwartet, was einer Zunahme von 37 Prozent entspricht. In Baden-Württemberg und Bayern erwartet die Pflegevorausberechnung gar 51 beziehungsweise 56 Prozent mehr Pflegebedürftige.
Schon heute werden von den fünf Millionen Pflegebedürftigen 4,2 Millionen, oder 84 Prozent, zu Hause gepflegt. In 63 Prozent aller Fälle sogar ausschließlich von Angehörigen. Die übrigen 16 Prozent werden in Pflegeheimen versorgt. Diese 16 Prozent erhalten allerdings 36 Prozent der rund 50 Milliarden, die dem Pflegesektor in Deutschland zur Verfügung stehen. Trotz der finanziellen Nachteile entscheidet sich die Mehrheit in Deutschland aber dennoch für die Pflege daheim. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, meint Peter dazu.
Den Nachmittag haben beide in einem Café verbracht. „Hier treffen sich die Leute aus der Nachbarschaft“, erzählt er. Aller Mühsal zum Trotz ist die 93-Jährige noch immer gerne unter Menschen. Nach einem langen Tag sei es jetzt aber Zeit fürs Abendessen: „Blumenkohlsuppe mit Curry“hat der 35-Jährige vorbereitet: „Wir ernähren uns beide vegetarisch. Auch deshalb passen wir so gut zusammen.“
In einem „kranken Gesundheitssystem“, wie Pflegevermittlerin Stefanidis es nennt, scheinen Maria und Peter ihre Nische gefunden zu haben.
2000 Euro plus Kost und Logis wird dem Pfleger von Maria jeden Monat gezahlt.
Die staatliche Hilfe für das Heim ist dreimal so hoch wie für die häusliche Pflege.