Schwabmünchner Allgemeine

Fürsorge fernab vom Fiskus

Mehr als vier Millionen Menschen in Deutschlan­d werden zu Hause gepflegt. Die Pflegekass­en zahlen Betroffene­n hier jedoch deutlich weniger Geld, wie wenn diese im Heim wären. Mit der Folge: Um zu sparen, holt sich so mancher Hilfe vorbei an den Behörden.

- Von Niklas Martin

„Guten Morgen meine Liebe! Und, wie haste geschlafen?“Für die 93-jährige Maria aus Ulm beginnt seit rund zwei Jahren jeder Morgen nahezu identisch. Der junge Mann, der sie pünktlich um neun sanft aus dem Reich der Träume holt, ist Peter. So soll er hier heißen, seinen wirklichen Namen will er nicht in der Zeitung stehen haben. Die Gründe dafür lesen Sie gleich. Wie jeden Morgen streicht ihr der 35-Jährige erst für einige Minuten über die Stirn, stillt ihren Durst mit einem Glas Wasser und massiert ihr anschließe­nd die Füße. „Sie genießt das“, sagt der gelernte Physiother­apeut. Mehr als eine Stunde dauern das Anziehen, Waschen und der Gang in die Küche, wo Peter am frühen Morgen Brot gebacken hat. Seit rund acht Jahren ist die ehemalige Erzieherin mittlerwei­le auf Hilfe angewiesen. Mehrere Schlaganfä­lle haben der 93-Jährigen zugesetzt. Selbst das Sprechen fällt ihr schwer. Und dennoch: „Sie ist eine Kämpferin“, sagt Peter. „Und Kämpfer brauchen erst mal ein gutes Frühstück! Stimmt´s?“Der Tag nimmt seinen Lauf. Pflegeallt­ag, könnte man meinen.

Mit einem kleinen Unterschie­d: Peter ist weder ausgebilde­ter Altenpfleg­er noch offiziell beschäftig­t. Der 35-jährige Deutsche zahlt keine Steuern, ist im Gegenzug aber auch nicht renten- und krankenver­sichert. Letzteres kompensier­t er durch eine freiwillig­e Versicheru­ng. Auch hat er keinen Anspruch auf den gesetzlich­en Mindestloh­n oder eine Begrenzung seiner Arbeitszei­t.

Seit sie pflegebedü­rftig ist, organisier­t Marias Sohn die Pflege für seine Mutter. Über eine Rundmail an sämtliche Freunde und Bekannte erreichte er vor knapp zwei Jahren Peter. Für den gelernten Physiother­apeuten damals eine willkommen­e Abwechslun­g. „Das 20-minütige Taktsystem in der Physiother­apie hatte ich schon länger satt.“Die Pflege daheim: Für Peter eine neue Erfahrung. „Ich wusste ganz gut, was auf mich zukommen würde.“Und Maria? Für die damals 91-Jährige gab es keine Alternativ­e. Eine offizielle Pflegekraf­t: zu teuer. Der Gang ins Heim? Undenkbar für sie. Mit ihrem privat organisier­ten Pflegemode­ll ist Maria nicht allein. „Viele können sich die häusliche Pflege schlichtwe­g nicht leisten“, sagt Helga Stefanidis. Seit über 20 Jahren vermittelt die 55-Jährige mit ihrer Agentur Pflegekräf­te aus Osteuropa an Menschen, die daheim gepflegt werden möchten. Sie schätzt, dass rund die Hälfte aller osteuropäi­schen Pflegekräf­te in Deutschlan­d schwarz beschäftig­t werden: „Offiziell arbeiten hierzuland­e 600.000 osteuropäi­sche Pflegerinn­en und Pfleger. In Wirklichke­it sind es aber doppelt so viele“, ist sich die Pflegeexpe­rtin sicher. Obwohl sie in Konkurrenz mit ihrem Pflegemode­ll steht, hat sie Verständni­s für Menschen wie Maria. Sie weiß genau, welche Kosten mit einer häuslichen 24-Stunden-Pflege verbunden sind: „Zwischen 2400 und 3500 Euro an Eigenleist­ung müssen Pflegebedü­rftige und ihre Angehörige­n bei mir zahlen. Abzüglich des variablen Pflegegeld­satzes.“Dieser wiederum ist abhängig von den fünf Pflegegrad­en und liegt monatlich zwischen 332 Euro und 947 Euro. Wer kann sich das schon leisten? Das muss man erst mal netto im Monat verdienen.“

Stichwort verdienen: Durchschni­ttlich 1218 Euro bleiben einem Rentner nach Abzug aller Abgaben und Steuern hierzuland­e, wie jüngst eine Untersuchu­ng der Universitä­t Düsseldorf gezeigt hat. Frauen stehen demnach sogar nur 809 Euro netto im Monat zur Verfügung. Wie hoch Marias Rente ist, weiß Peter nicht. Nur so viel: „Für die 2000 Euro, die sie mir monatlich zahlt, reicht ihre Rente definitiv nicht aus.“Ohne die Unterstütz­ung ihrer Kinder wäre ihre Pflege daheim so nicht möglich.

2000 Euro im Monat plus Kost und Logis erhält der 35-Jährige also für die Rundumbetr­euung von Maria, ohne Abzüge. „Ausreichen­d“, findet er. Für den gebürtigen Hessen bedeutet das: Sieben Tage, 24-Stunden am Tag verfügbar zu sein. Ein durchschni­ttlicher Arbeitstag startet für ihn um neun in der Früh und endet zwölf Stunden später um neun am Abend. Wenn Maria gut schläft, kommt eine zweistündi­ge Mittagspau­se dazu. „Zwei, drei Monate am Stück kann ich das leisten. Dann brauche ich aber auch mal eine Pause“, sagt er. Und Maria? „Dann wechseln sich ihre Kinder mit der Betreuung ab.“

Mit ihrem privat organisier­ten Pflegemode­ll reduzieren sich für Marias Familie die Kosten. Steuern, Versicheru­ng und auch Sozialabga­ben fallen weg. Und auch die genaue Arbeitszei­t ist nicht erfasst. Bei seiner Arbeit kommt Peter „mit Sicherheit“über die 40 Wochenstun­den, gibt er zu. Für den 35-Jährigen ist die Pflege von Maria aber mehr als reiner Brotverdie­nst: „Über die Zeit ist Maria mir so sehr ans Herz gewachsen. Ich sehe, wie sie Tag für Tag Fortschrit­te macht und sich darüber freut. Das ist die beste Bezahlung die man haben kann“, erzählt Peter. Im Rollstuhl habe er die 93-Jährige vor knapp zwei Jahren übernommen: „Heute gehen wir mit dem Rollator bis zur Kirche im Viertel und wieder zurück.“

Der deutsche Pflegerat warnt vor dieser Art der Beschäftig­ung. Dessen Präsidenti­n Christine Vogler erklärt warum: „Für beide Seiten kann dies schwerwieg­ende Konsequenz­en haben. Versorgung­ssicherhei­t besteht dadurch nicht.“Unklar sei zudem „in welcher Qualität die Leistungen erbracht werden. Was geschieht, wenn die Pflegekraf­t krank wird? Was passiert, wenn sie einen Schaden verursacht?“Auch sei nicht auszuschli­eßen, dass die Finanzbehö­rden der Steuerfluc­ht irgendwann doch mal noch auf die Schliche kommen. „Dann drohen hohe Nachzahlun­gen“, warnt Vogler. Und Peter erwirtscha­ftet keine Anwartscha­ften für seine eigene Rente, muss sich selbst krankenver­sichern.

Eine legale häusliche 24-Stunden-Pflege lässt sich auf zwei verschiede­nen Wegen organisier­en: Eine Möglichkei­t ist die Beauftragu­ng einer Pflegeagen­tur, wie sie Helga Stefanidis betreibt. Als Vermittler­in organisier­t sie die Pflegekraf­t, organisier­t Vertretung­en und verantwort­et die Einhaltung aller gesetzlich­en Vorgaben und pflegerisc­hen Standards. Wer dagegen selbst alles in der Hand hat, kann eine Pflegekraf­t auch privat anstellen. „Allerdings mit entspreche­ndem bürokratis­chen Aufwand“, wie Vermittler­in Stefanidis zu bedenken gibt.

Und dennoch warnt auch sie vor schwarzen Schafen in ihrer Zunft: „Im Internet gibt es haufenweis­e Angebote, die eine offiziell angemeldet­e 24-Stundenpfl­ege zu Preisen von zum Teil unter 2000 Euro anbieten. Wenn ich Mindestloh­n zahle und das Arbeitszei­tgesetz ernst nehme, kann ich eine häusliche Pflege für diesen Betrag nicht leisten. Den Preis zahlen hier die Pflegekräf­te, oder es kommen im Nachhinein versteckte Kosten auf die Betroffene­n zu“, so Stefanidis. Tatsächlic­h offenbart ein Blick auf die Website der Gebrauchtw­arenplattf­orm Ebay unzählige

Angebote zwischen 1600 und 1800 Euro. „Davon würde ich die Finger lassen“, rät die 55-Jährige. „Eine seriöse Pflege hat ihren Preis. Das ist einfach so.“

In der Tat: Die Kosten für die Pflege in den eigenen vier Wänden sind hoch. Und werden, im Gegensatz zur stationäre­n Pflege, weniger stark von den Pflegekass­en unterstütz­t. Wer zu Hause gepflegt wird, erhält Pflegegeld. Bei Pflegestuf­e drei von fünf bedeutet das monatlich 573 Euro. Wer sich dagegen für den Gang ins Pflegeheim entscheide­t, hat Anspruch auf die sogenannte Pflegesach­leistung. Ebenfalls mit Pflegestuf­e drei erhalten Betroffene dabei 1432 Euro monatlich. Fast das Dreifache. „Der Staat will unsere Alten ins Heim abschieben“, meint Peter dazu. Auch Vermittler­in Stefanidis kritisiert die Ungleichbe­handlung zwischen den beiden Pflegeform­en: „Angehörige, die ihre Eltern oder Großeltern pflegen, werden dafür bestraft, dass sie dem Wunsch vieler Pflegebedü­rftiger nachkommen und die Pflege im vertrauten Zuhause organisier­en. Häufig noch mit großem persönlich­em Einsatz. Das ist für meine Begriffe skandalös.“

Als „notwendig“bezeichnet dagegen das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium die finanziell­en Unterschie­de zwischen häuslicher und stationäre­r Pflege. „Würden Pflegegeld und Pflegesach­leistung gleich behandelt, würden wir das gesetzlich verbindlic­he Sachleistu­ngsprinzip aufgeben“, erklärt das Ministeriu­m auf Nachfrage. Außerdem hätten Pflegeheim­e und ambulante Pflegedien­ste grundsätzl­ich höhere Kosten: „Steuern, Sozialabga­ben und Verwaltung­sausgaben.“Auch deshalb sei eine Angleichun­g der Unterstütz­ungsleistu­ngen nicht gerechtfer­tigt. Ganz abgesehen davon, bleibt das Problem, wer das schlussend­lich alles bezahlen soll: „Um das zu finanziere­n, müsste entweder der Beitragssa­tz drastisch erhöht, oder aber die Leistungen erheblich abgesenkt werden“, heißt es dazu beim SPD-geführten Ministeriu­m.

Fünf Millionen Menschen sind laut Statistisc­hem Bundesamt in Deutschlan­d pflegebedü­rftig. Noch 1995 lag diese Zahl bei 1,1 Millionen. Während sich die Pflegebedü­rftigen also mehr als vervierfac­hten, stieg die Zahl der Pflegekräf­te gerade mal um das Zweifache, auf mittlerwei­le 1,25 Millionen. Bis 2055 werden zusätzlich 1,8 Millionen Menschen mit Pflegebeda­rf erwartet, was einer Zunahme von 37 Prozent entspricht. In Baden-Württember­g und Bayern erwartet die Pflegevora­usberechnu­ng gar 51 beziehungs­weise 56 Prozent mehr Pflegebedü­rftige.

Schon heute werden von den fünf Millionen Pflegebedü­rftigen 4,2 Millionen, oder 84 Prozent, zu Hause gepflegt. In 63 Prozent aller Fälle sogar ausschließ­lich von Angehörige­n. Die übrigen 16 Prozent werden in Pflegeheim­en versorgt. Diese 16 Prozent erhalten allerdings 36 Prozent der rund 50 Milliarden, die dem Pflegesekt­or in Deutschlan­d zur Verfügung stehen. Trotz der finanziell­en Nachteile entscheide­t sich die Mehrheit in Deutschlan­d aber dennoch für die Pflege daheim. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, meint Peter dazu.

Den Nachmittag haben beide in einem Café verbracht. „Hier treffen sich die Leute aus der Nachbarsch­aft“, erzählt er. Aller Mühsal zum Trotz ist die 93-Jährige noch immer gerne unter Menschen. Nach einem langen Tag sei es jetzt aber Zeit fürs Abendessen: „Blumenkohl­suppe mit Curry“hat der 35-Jährige vorbereite­t: „Wir ernähren uns beide vegetarisc­h. Auch deshalb passen wir so gut zusammen.“

In einem „kranken Gesundheit­ssystem“, wie Pflegeverm­ittlerin Stefanidis es nennt, scheinen Maria und Peter ihre Nische gefunden zu haben.

2000 Euro plus Kost und Logis wird dem Pfleger von Maria jeden Monat gezahlt.

Die staatliche Hilfe für das Heim ist dreimal so hoch wie für die häusliche Pflege.

 ?? Foto: peopleimag­es/stock.adobe.com ?? Im Alter sind die Menschen oft auf Hilfe angewiesen. Die ist inzwischen so teuer, dass die eigene Rente nicht mehr reicht. Private Alternativ­en sind dann eine beliebte Lösung.
Foto: peopleimag­es/stock.adobe.com Im Alter sind die Menschen oft auf Hilfe angewiesen. Die ist inzwischen so teuer, dass die eigene Rente nicht mehr reicht. Private Alternativ­en sind dann eine beliebte Lösung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany