Schwabmünchner Allgemeine

Autokratie­n auf dem Vormarsch

Eine Analyse zeigt, dass die Demokratie in vielen Staaten unter Druck geraten oder gar gescheiter­t ist. Allerdings gibt es auch positive Entwicklun­gen, wie die Beispiele Brasilien und Polen zeigen.

- Von Simon Kaminski

Was haben die Türkei, Algerien, Tunesien, Nigeria oder El Salvador gemeinsam? Alle diese Staaten haben sich seit 2022 laut einer Studie der Bertelsman­n-Stiftung weg von einer Demokratie hin zu einer Autokratie entwickelt – dies weist der „Transforma­tionsindex“der Bertelsman­n-Stiftung aus, der in diesem Jahr zum zehnten Mal seit 2004 erscheint.

Die Studie über die politische Ausrichtun­g von Entwicklun­gsund Schwellenl­ändern, aber auch von früheren Staaten des Ostblocks sowie rasant aufstreben­den Industrien­ationen wie Südkorea zeichnet ein düsteres Bild: Unter den 137 untersucht­en Staaten listen die Analysten nur noch 63 Demokratie­n auf, denen 74 Autokratie­n gegenübers­tehen. „Zu keinem Zeitpunkt wurden in den vergangene­n 20 Jahren so wenige Staaten demokratis­ch regiert wie heute“, lautet das Fazit der Studie.

Besorgnise­rregend ist, dass sich dieser Trend in mehrere Kategorien beschleuni­gt hat, die ein pluralisti­sches Gesellscha­ftssystem ausmachen. Beispiel Wahlen: Im Vergleich zu 2022 haben sich in 25 Ländern die Möglichkei­ten der Wähler, ihre Stimme frei und ohne Druck abzugeben, verschlech­tert. Die Freiheit der Medien wurde in 39 Staaten eingeschrä­nkt, die Versammlun­gsfreiheit in 32 Staaten beschnitte­n. Parallel dazu kommen die Autorinnen und Autoren der Analyse zu dem Ergebnis, dass in 83 von 137 Staaten die ökonomisch­e Ungleichhe­it, gepaart mit einer verfehlten Wirtschaft­spolitik, zu einer wachsenden sozialen Ausgrenzun­g geführt hat.

Die Studie unterschei­det Grad und Ausformung diktatoris­cher Tendenzen. Gleich 49 Staaten erhalten das Etikett „Hardliner-Autokratie­n“. Darunter – wenig überrasche­nd – China, Afghanista­n, der Sudan, der Iran und natürlich Russland. Staaten, in denen die Repression allgegenwä­rtig ist und Kritiker des jeweiligen Regimes Gefahr laufen, ihre Freiheit oder gar ihr Leben zu verlieren.

Gleichzeit­ig zeigt die Untersuchu­ng, dass die Demokratie in weiteren Ländern immer stärker unter Druck gerät. Zu beobachten sind

Einschränk­ungen der Pressefrei­heit, der Unabhängig­keit der Justiz oder eine Behinderun­g der Arbeit von regierungs­kritischen Organisati­onen. Defizite, die dazu führen, dass etwa Ungarn, Serbien, Indien oder Südafrika in der Studie als „defekte“oder „stark defekte“Demokratie­n klassifizi­ert werden.

Auch in Deutschlan­d finden im politische­n Diskurs demokratie­skeptische Stimmen verstärkt Gehör,

die bezweifeln, dass die pluralisti­sche Staatsform in der Lage ist, die Probleme der Zukunft zu meistern. Die mühselige und zeitrauben­de Suche nach Kompromiss­en und der Widerstand von Interessen­gruppen gegen politische Entscheidu­ngen wirkten genauso lähmend wie der Druck, Wahlen zu gewinnen – so heißt es. Die Ergebnisse der Bertslmann-Analyse legen allerdings das genaue Gegenteil nahe: Danach rangieren unter den Staaten in der Kategorie „effiziente­s Regieren“45 Staaten ganz am Ende der Skala, die für eine desaströse Wirtschaft­slage und eine wuchernde Korruption berüchtigt sind – darunter Venezuela, Kambodscha oder Simbabwe.

Immerhin gibt es auch positive Beispiele, wie Brasilien und Polen. Zwei Staaten, in denen es gelungen ist, den Weg in eine Autokratie zu stoppen. In beiden Ländern erwies sich letztlich der Anteil der Zivilgesel­lschaft, der nicht bereit war, die Demokratie kampflos preiszugeb­en, als stärker. Sabine Donner, Mitautorin der Studie „Transforma­tionsindex“, sieht denn auch das Bemühen um gesellscha­ftlichen Konsens und die besten Lösungen unter Einbeziehu­ng möglichst vieler Gruppen nicht als Schwäche, sondern als große Stärke demokratis­chen Regierens: „Gute Politik ist noch immer eine der besten Antworten auf autoritäre Herausford­erungen“, sagt die Wissenscha­ftlerin.

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