Schwabmünchner Allgemeine

Zeit der Kindheit, Zeit der Albträume

Anke Feuchtenbe­rger hat die deutsche Comicszene geprägt wie keine andere Zeichnerin. Ihre Graphic Novel „Genossin Kuckuck“über das Aufwachsen in der DDR ist nun für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

- Von Christa Sigg Anke Feuchtenbe­rger: Genossin Kuckuck. Reprodukt Verlag, 480 Seiten, 44 €.

Da sitzen Schweine mit gekräuselt­em Kragen vor geöffneten Konservend­osen. In einem apokalypti­schen Wald bäumt sich eine monströse Nacktschne­cke auf. Und durch den Nachthimme­l flitzt ein weiblicher Orion auf Schlittsch­uhen. Im Kosmos der Anke Feuchtenbe­rger ist alles möglich, aber vielleicht gehört das Eintauchen in surreale Welten zu den Überlebens­strategien in einem System, das wenig Freiheiten lässt. In ihrer Graphic Novel „Genossin Kuckuck“geht es düster zu, manchmal sogar saukomisch, und man weiß nie so recht, wo die Wirklichke­it aufhört und der (Alb)Traum beginnt.

Unter der Trophäe eines Keilers schwören sich zwei kleine Mädchen – Kerstin und Effi – ewige Freundscha­ft. Das ist der Ausgangspu­nkt für eine Reise durch Feuchtenbe­rgers eigene Vergangenh­eit und das Aufwachsen in der DDR. Das heißt, im fiktiven Dorf Pritschita­now, das einst von der ungarische­n Volksrepub­lik mit einem gigantisch­en Lenin-Denkmal beschenkt wurde.

In Pritschita­now können gemütliche Feste schon mal eskalieren, wie letztlich vieles unter der streng gebürstete­n Fassade gärt und blubbert. Es wird nie offen geredet, ohnehin nicht über den Krieg. Das kennt man auch im Westen zur Genüge, allerdings mit dem feinen Unterschie­d, dass in der DDR die Russen nach 1945 nicht nur Verbündete, sondern gute Freunde zu sein hatten. Feuchtenbe­rger deutet solches nur an, aber ihr Rückblick zeigt, wie sehr das Politische ins Private hineinspie­lt. Kerstin, das Alter Ego der Autorin, und Effi haben beide nicht viel von ihren Müttern. Die eine verschreib­t sich dem Aufbau des Sozialismu­s, deshalb wächst Kerstin bei der Großmutter auf. Die andere ist die wasserstof­fblonde Dorfsexbom­be, deren Mann Kontakt zu den russischen Soldaten unterhält und deren Geliebter ein Erziehungs­heim leitet.

Feuchtenbe­rger erzählt keine zusammenhä­ngende Geschichte und sie entwickelt auch in diesen über zehn Jahre hinweg entstanden­en Episoden ihre eigene, sehr rätselhaft­e Ikonografi­e. Das macht es mühsam. Auf der anderen Seite überlässt die 1963 in Ostberlin geborene Zeichnerin ihrem Publikum die Auslegung. Den Zeigefinge­r kennt sie sowieso nicht. Und vieles kann man in diesem Konglomera­t aus Kinderkram und Drill, Solidaritä­t und Übergriffi­gkeit auch nicht verstehen.

Dass ausgerechn­et Tiere darüber beraten, unter welchen Umständen eine Mutter ihr Kind verlassen darf, hat schon wieder – im doppelten Wortsinn – fabelhaft schräge Züge. „Aber jemand muss doch arbeiten gehen“, stellt Frau Kuckuck fest. Überhaupt sind es die Hunde und Wölfe, Eulen, Schweine und immer wieder die Schnecken, die einen ganz sonderbare­n Sog ausüben.

Feuchtenbe­rger, die seit über 30 Jahren an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenscha­ften „Graphische Erzählung“unterricht­et, pflegt eine sehr eigenständ­ige Bildsprach­e, fern jeder Marktstrat­egie. Mit Preisen wurde die Comic-Professori­n überhäuft, und die Absolvente­n ihrer Klassen dominieren die deutsche Szene. Darunter Barbara Yelin, Simon Schwartz, Line Hoven und Sascha Hommer. Man brauchte sich also nicht zu wundern, als Feuchtenbe­rger vor zwei Jahren, da war sie noch keine 60, beim Internatio­nalen Comicsalon in Erlangen mit dem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeich­net wurde. Nun ist „Genossin Kuckuck“für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert – im Bereich Belletrist­ik. Ein Novum, aber bei einer Pionierin poetischer Bildergesc­hichten auch nicht aus der Luft gegriffen.

Es geht düster zu, manchmal sogar saukomisch.

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Foto: Feuchtenbe­rger/Reprodukti­on Vom Aufwachsen in der DDR erzählt Anke Feuchtenbe­rger anhand der beiden Mädchen Effi und Kerstin.

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