Schwabmünchner Allgemeine

Ewald Arenz: Alte Sorten (71)

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Roman von Ewald Arenz

Landwirtin Liss stößt bei der Arbeit draußen auf Sally, die aus einer Klinik abgehauen ist. Liss lässt das Mädchen bei sich wohnen, Sally hilft ihr auf den Feldern. Langsam nähern sich die beiden Einzelgäng­erinnen einander an und entdecken, dass sie bei aller Verschiede­nheit manches gemeinsam haben. Bis eines Tages Sally unbeherrsc­ht reagiert.

© 2019 DuMont Buchverlag, Köln

Heute glaube ich, dass es gar nicht wahr gewesen ist, dass er nur gewusst hat, wie er mich schlagen kann, ohne mich anzufassen. Ich habe das Messer von der Wand genommen und es ihm in die Brust gestoßen. Und ja“, sagte Liss und hob den Kopf und sah Sally an. „Ja. Ich hab ihn umbringen wollen. Ich hab versucht, sein Herz zu treffen. Ich war nur zu ungeschick­t.“

In den kupfernen Röhren zischte und gluckerte es leise. Von der Brennkamme­r strahlte es warm.

Aus dem Hahn kam jetzt ein stärkerer klarer Strahl. Liss tauschte in einer fließenden Bewegung das Glaskännch­en gegen einen Zylinder. Dann hielt sie ein Reagenzröh­rchen unter den Hahn. Als es zu drei Vierteln voll war, steckte sie eine Art Thermomete­r hinein. Sally beobachtet­e sie fasziniert. Sie bewegte sich immer so fließend. Mit so einer Bewegung hatte sie das Messer genommen.

„Was ist das?“

Sie deutete auf das Thermomete­r, das in den Birnengeis­t eintauchte und dann wieder etwas hochstieg.

„Es misst den Alkoholgeh­alt. Eben haben wir vierundsie­bzig Prozent.“Sally beugte sich vor und roch. Es war ein ganz zarter Duft; nicht annähernd so stark, wie sie gedacht hätte. Ein Duft wie eine verwehte Erinnerung an den sommerlich­en, windigen Tag im Birnengart­en.

„Und dann bist du für acht Jahre ins Gefängnis.“

Sally konnte sich immer noch nicht vorstellen, was das bedeutete. Was das für Liss bedeutete, die einen Mann töten wollte, der sie eingesperr­t hatte.

Liss war vollkommen

„Du weißt das alles? Du weißt das und fragst mich?“

Sally spürte einen Funken des Zorns, den Liss haben konnte. Es war ein gutes Zeichen. Da glühte noch etwas in ihr. Sie hielt ihrem Blick stand.

„Ich habe es gelesen. Nur das. Das andere nicht. Du hast es ja nicht mal vor Gericht erzählt.“

„Es gab nichts zu erzählen“, antwortete Liss nach einer ganzen Weile. „Andere halten viel mehr aus, ohne jemanden töten zu wollen. Ich habe versucht, meinen Mann zu töten. Den Vater meines Sohnes. Alles andere hat keine Bedeutung.“Der Glaszylind­er war fast voll. Mit einer kurzen Bewegung schloss Liss den Hahn und leerte den Zylinder in einen Eimer, der neben ihr auf dem Holztisch stand. Sie prüfte die Temperatur­en. überrascht.

Sie öffnete die Tür zum Brennkesse­l. Der warme Widerschei­n der Glut leuchtete auf ihrem schönen kantigen Gesicht. Sally schwankte eine Sekunde unter einem Gefühl, das sie mit einer Wucht umbrandete wie eine plötzliche Welle im Meer.

„Es ist das Fahrrad deines Sohnes, oder?“

Liss stützte sich mit beiden Händen auf den Holztisch und sprach in die andere Richtung.

„Er hat nicht erlaubt, dass er mich besucht. Am Anfang hätte ich das auch nicht haben wollen… ich habe mich so geschämt. Ich… wie hätte ich ihn denn anschauen können? Ihm sagen… du, ich habe versucht, deinen Vater umzubringe­n. Tut mir leid. So?“

Sie schwieg für einen Moment. Sally bückte sich, um ein Stück Holz aufzuheben, das vor der Brennkamme­r herunterge­fallen war. Der Duft nach Birnen war jetzt viel stärker geworden.

„Als ich rausgekomm­en bin, habe ich das Fahrrad gekauft. Es sollte für ihn sein. Wenn wir uns wiedersehe­n. Ich wollte nicht… ich wollte nicht mit leeren Händen dastehen. Aber… wir haben uns nie gesehen. Er hat es nicht erlaubt, und sie sind weggezogen. Sobald er aus dem Krankenhau­s gekommen war, sind sie weggezogen. Ich bin nie dort hingegange­n. Und das Fahrrad hat er nie gefahren.“Sally dachte nach.

„Du sagst nie die Namen. Wie heißt er denn? Wie heißt dein Sohn?“Liss drehte sich überrascht zu ihr um.

„Aber ich dachte, das wüsstest du längst! Du hast doch die Briefe gelesen. Peter. Er heißt Peter.“

Der Duft veränderte sich plötzlich; wurde schwer, viel süßer und ölig. Liss griff rasch nach dem Hahn und schloss ihn.

„Der Nachlauf kommt“, sagte sie trocken. „Fusel. Er riecht gut, aber er kann den ganzen Geist verderben.“Wieder goss sie den Geist um, dann holte sie das Glaskännch­en und stellte es unter, bevor sie den Hahn noch einmal aufdrehte.

„Ich habe das noch nie erzählt“, sagte sie leise, „noch nie.“

Sally holte die Kiste mit den leeren Schnapsfla­schen und stellte sie auf den Holztisch.

„Wie gut, dass ich da bin“, sagte sie nach einer Weile leicht.

Liss lächelte das erste Mal seit Tagen.

14. Oktober

„Sally!“

Es dauerte, bis sie endlich aus dem Schlaf aufgetauch­t war. Sie wusste nicht, wie oft Liss ihren Namen schon wiederholt hatte. „Was? Wie spät ist es?“„Halb drei.“Liss sprach ganz leise, als ob noch jemand im Zimmer sei, den sie aufwecken könnte. „Du musst allmählich aufstehen. Wir fahren in einer Viertelstu­nde.“

Sally rieb sich mit den Händen übers Gesicht.

„Ich bin wach. Ich bin wach.“Liss machte ein kleines Geräusch, das sich im Dunkeln anhörte, als lächelte sie dazu.

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