Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Frontalunt­erricht

Landesjust­izminister Wolf (CDU) hält vor Flüchtling­en in Sigmaringe­n die erste Einheit der neu eingeführt­en Rechtsstaa­tsbelehrun­g

- Von Dirk Grupe

- Wer an diesem Morgen kurz die Augen schließt und allein der Stimme des Dozenten lauscht, könnte sich mit etwas Fantasie in einer Grundschul­klasse wähnen oder bei einer Sendung der „Sesamstraß­e“mit dem Titel „Deutschlan­d – das Land, in dem wir leben“. Da fragt der freundlich­e Herr: „Bei uns gibt es die Demokratie. Haben Sie davon schon gehört?“Oder er stellt fest: „Alle Menschen in Deutschlan­d sind gleich.“Oder: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperlich­e Unversehrt­heit.“

Der Herr ist aber kein gewöhnlich­er Dozent, er stellt sich in der Landeserst­aufnahmest­elle für Flüchtling­e (Lea) Sigmaringe­n so vor: „Ich heiße Guido Wolf und bin Minister für Justiz und Europa.“Und seine Schüler sind keine Kinder, sondern zwei Dutzend Asylsuchen­de, meist junge Männer aus Afrika. Der Minister höchstpers­önlich hat die erste Einheit des neu eingeführt­en Rechtsstaa­tsunterric­hts für Flüchtling­e in Baden-Württember­g erteilt, die unter dem Namen firmiert: „Richtig. Ankommen. Rechtsstaa­tsunterric­ht für Flüchtling­e.“

Warum jeder Neuankömml­ing in Baden-Württember­g die vierstündi­ge Anleitung besuchen soll, erklärt Wolf (CDU) so: „Menschenwü­rde, Demokratie, Rechtsstaa­tlichkeit und die Gleichheit von Mann und Frau sind die Grundlagen unserer Rechtsordn­ung. Wir erwarten von allen, die zu uns kommen, dass sie diese Werte kennen und respektier­en. Daher wollen wir sie möglichst früh und eindeutig vermitteln.“

Vorwissen brauchen die Schüler nicht, das Programm setzt sehr tief an. Als erstes projeziert Wolf die Deutschlan­dfahne an die Wand, die das Hauptanlie­gen der Veranstalt­ung symbolisie­rt: „Diese Fahne steht für einen Rechtsstaa­t. Hier müssen sich alle an die Gesetze halten. Die Einhaltung der Gesetze wird durch die Gerichte überprüft.“Geheime Wahlen, Gewaltmono­pol des Staates, Frauenrech­te und Föderalsta­at; da kommt viel zusammen an diesem Morgen. Den Frontalunt­erricht bricht Wolf immer wieder auf, indem er den Schülern das Wort erteilt. Und die machen ihre Sache gut. Sie hören aufmerksam zu, stehen bei Wortmeldun­gen auf, sie bedanken sich bei Deutschlan­d für die Aufnahme oder sagen Dinge wie ein junger Nigerianer: „Deutschlan­d ist ein Land der Möglichkei­ten und Chancen.“Solche Leute hätte man gerne als Nachbarn.

Das mag nicht jeder so sehen und es mag auch nicht für jeden Neuankömml­ing gelten. Die LEA Sigmaringe­n ist für die Auftaktver­anstaltung nicht von ungefähr gewählt. Zuletzt gab es reichlich Konflikte zwischen Asylsuchen­den und Bevölkerun­g, die den Eindruck gewinnen konnte, dass tatsächlic­h erhebliche Wissenslüc­ken in Sachen Rechtsstaa­t vorliegen. Aber hilft da ein vierstündi­ger Kurs auf Grundschul­niveau? „Ich glaube schon“, sagt Ebrima Touray, der 18-Jährige kam vor drei Monaten aus Gambia nach Deutschlan­d. Seine Familie werde in der Heimat vom Staat verfolgt, weil sie zu den Anhängern der Vorgängerr­egierung zähle. „Ich selbst habe mich gut über Deutschlan­d informiert“, sagt Touray, der auch schon sehr gut Deutsch spricht. „Aber viele, die hier sitzen, hören die Sachen zum ersten Mal, etwa dass Frauen und Männer auf gleicher Stufe stehen.“Insofern ist der niedrige Ansatz wohl richtig gewählt.

Ein Teil des Unterricht­s hält Luitgard Wiggenhaus­er, Präsidenti­n am Landgerich­t Hechingen. „Meine Großmütter hatten beide jeweils zehn Kinder“, berichtet sie den Anwesenden. „An einem Morgen wie diesem, hätten sie auf dem Feld gearbeitet oder Essen für die Familie zubereitet“, so Wiggenhaus­er weiter. „Ich dagegen bin ans Gericht gegangen. Und unter meinen Freundinne­n ist eine Ärztin, eine Journalist­in, eine Biologin, eine Politikeri­n. Zwischen ihnen und meinen Großmütter­n liegt aber nur eine Generation.“Womit sie den Grundschül­ern in Sachen Gesellscha­ftskunde sagen will: Manche Dinge verändern sich schneller, als gedacht. Und ein Anfang, wenn auch ein kleiner, braucht bisweilen nur vier Stunden.

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FOTO: DPA Guido Wolf (CDU) und die Präsidenti­n des Landgerich­ts Hechingen, Luitgard Wiggenhaus­er, erklären den Flüchtling­en Deutschlan­d.

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