Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Frontalunterricht
Landesjustizminister Wolf (CDU) hält vor Flüchtlingen in Sigmaringen die erste Einheit der neu eingeführten Rechtsstaatsbelehrung
- Wer an diesem Morgen kurz die Augen schließt und allein der Stimme des Dozenten lauscht, könnte sich mit etwas Fantasie in einer Grundschulklasse wähnen oder bei einer Sendung der „Sesamstraße“mit dem Titel „Deutschland – das Land, in dem wir leben“. Da fragt der freundliche Herr: „Bei uns gibt es die Demokratie. Haben Sie davon schon gehört?“Oder er stellt fest: „Alle Menschen in Deutschland sind gleich.“Oder: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“
Der Herr ist aber kein gewöhnlicher Dozent, er stellt sich in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge (Lea) Sigmaringen so vor: „Ich heiße Guido Wolf und bin Minister für Justiz und Europa.“Und seine Schüler sind keine Kinder, sondern zwei Dutzend Asylsuchende, meist junge Männer aus Afrika. Der Minister höchstpersönlich hat die erste Einheit des neu eingeführten Rechtsstaatsunterrichts für Flüchtlinge in Baden-Württemberg erteilt, die unter dem Namen firmiert: „Richtig. Ankommen. Rechtsstaatsunterricht für Flüchtlinge.“
Warum jeder Neuankömmling in Baden-Württemberg die vierstündige Anleitung besuchen soll, erklärt Wolf (CDU) so: „Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit von Mann und Frau sind die Grundlagen unserer Rechtsordnung. Wir erwarten von allen, die zu uns kommen, dass sie diese Werte kennen und respektieren. Daher wollen wir sie möglichst früh und eindeutig vermitteln.“
Vorwissen brauchen die Schüler nicht, das Programm setzt sehr tief an. Als erstes projeziert Wolf die Deutschlandfahne an die Wand, die das Hauptanliegen der Veranstaltung symbolisiert: „Diese Fahne steht für einen Rechtsstaat. Hier müssen sich alle an die Gesetze halten. Die Einhaltung der Gesetze wird durch die Gerichte überprüft.“Geheime Wahlen, Gewaltmonopol des Staates, Frauenrechte und Föderalstaat; da kommt viel zusammen an diesem Morgen. Den Frontalunterricht bricht Wolf immer wieder auf, indem er den Schülern das Wort erteilt. Und die machen ihre Sache gut. Sie hören aufmerksam zu, stehen bei Wortmeldungen auf, sie bedanken sich bei Deutschland für die Aufnahme oder sagen Dinge wie ein junger Nigerianer: „Deutschland ist ein Land der Möglichkeiten und Chancen.“Solche Leute hätte man gerne als Nachbarn.
Das mag nicht jeder so sehen und es mag auch nicht für jeden Neuankömmling gelten. Die LEA Sigmaringen ist für die Auftaktveranstaltung nicht von ungefähr gewählt. Zuletzt gab es reichlich Konflikte zwischen Asylsuchenden und Bevölkerung, die den Eindruck gewinnen konnte, dass tatsächlich erhebliche Wissenslücken in Sachen Rechtsstaat vorliegen. Aber hilft da ein vierstündiger Kurs auf Grundschulniveau? „Ich glaube schon“, sagt Ebrima Touray, der 18-Jährige kam vor drei Monaten aus Gambia nach Deutschland. Seine Familie werde in der Heimat vom Staat verfolgt, weil sie zu den Anhängern der Vorgängerregierung zähle. „Ich selbst habe mich gut über Deutschland informiert“, sagt Touray, der auch schon sehr gut Deutsch spricht. „Aber viele, die hier sitzen, hören die Sachen zum ersten Mal, etwa dass Frauen und Männer auf gleicher Stufe stehen.“Insofern ist der niedrige Ansatz wohl richtig gewählt.
Ein Teil des Unterrichts hält Luitgard Wiggenhauser, Präsidentin am Landgericht Hechingen. „Meine Großmütter hatten beide jeweils zehn Kinder“, berichtet sie den Anwesenden. „An einem Morgen wie diesem, hätten sie auf dem Feld gearbeitet oder Essen für die Familie zubereitet“, so Wiggenhauser weiter. „Ich dagegen bin ans Gericht gegangen. Und unter meinen Freundinnen ist eine Ärztin, eine Journalistin, eine Biologin, eine Politikerin. Zwischen ihnen und meinen Großmüttern liegt aber nur eine Generation.“Womit sie den Grundschülern in Sachen Gesellschaftskunde sagen will: Manche Dinge verändern sich schneller, als gedacht. Und ein Anfang, wenn auch ein kleiner, braucht bisweilen nur vier Stunden.