Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Das Recht auf Faulheit
Über die Schwierigkeit, die Leistungsbereitschaft mal abzuschalten
Faulheit ist Hang zur Ruhe ohne vorhergehende Arbeit.
Immanuel Kant, Königsberger Philosoph, 1724-1804 Die Arbeit ist etwas Unnatürliches, die Faulheit allein ist göttlich.
Anatole France, französischer Schriftsteller, 1844-1924
Von Natur aus bin ich faul. „Träum nicht schon wieder, räum endlich auf, mach deine Hausaufgaben“, so zeterte die Mutter einst zu Recht. Ich kannte keinen Fleiß, nur eine jugendliche Hingabe an Dinge, die mich begeisterten. Statt Logarithmenregeln zu erkunden, hörte ich französische Chansons und bastelte Pfeifenputzermännchen. Das Abitur gab’s damals auch mit, sagen wir mal, bunteren Noten. Aber im Beruf hat es mich dann doch erwischt. Ich lernte, was es heißt zu arbeiten. Schnell, konzentriert, unermüdlich. Ich wurde ein Mitglied der Leistungsgesellschaft. Und jetzt habe ich ein Problem: Obwohl ich schon lange selbstständig arbeite und über meine Zeit frei verfüge, kann ich immer noch ganz schlecht abschalten. Faulheit bereitet mir Unbehagen.
Damit bin ich nicht allein. Das 21. Jahrhundert mit seinen Durchhalteparolen hat uns alle zu verbissenen Strebern des Alltags gemacht. Vorbei ist die Zeit der 1960er- und 70er-Jahre, als junge Leute in den Tag hinein tanzten und sich dem Wirtschaftswunder der Altvorderen frech verweigerten. Der globale Wettbewerb, die Finanzkrisen und die Flüchtlingsbewegungen haben dem Urvertrauen den Garaus gemacht. Heute fürchten sich schon Schüler vor dem Abstieg in die Armseligkeit. Abiturienten verzweifeln schier, wenn sie keinen Einser-Durchschnitt schaffen. Sie denken viel zu früh in pragmatischen Kategorien und studieren Jura oder BWL statt brotloser Kunst. Das Ziel ist das Ziel. So sind wir, wie der Kölner Psychologe Stephan Grünewald schon vor Jahren in seinem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“feststellte, in einen Zustand „besinnungsloser Betriebsamkeit“geraten.
Auch in den Unternehmen ist längst Schluss mit lustig. Effizienzsteigerung war die Parole der letzten Jahre, mithilfe von Erfolgsberatern und Evaluierungsprogrammen wurde jeder Leerlauf aus dem Arbeitstag entfernt. Schwätzen, Trödeln, aus dem Fenster gucken – das erscheint unproduktiv, das gehört in die Freizeit. Aber auch die verbringt der moderne Mensch ja nicht müßig unter dem Apfelbaum. Natürlich wird alle paar Minuten das Smartphone gecheckt – und zwischendurch das Private erledigt: Müll sortieren, Hecken schneiden, Keller aufräumen, Kinder motivieren, Gourmet-Menüs für die Freunde kochen, Küche putzen, Muskeln aufbauen – und mit Yoga eifrig entspannen! Faul sein kommt uns nicht in den Sinn. Wenn wir sonntags mal bis mittags im Pyjama auf dem Sofa liegen, quält uns gleich das schlechte Gewissen. Eine To-doListe ist das Mindeste, was wir an so einem Tag vor dem „Tatort“schaffen müssen. Wir sehnen uns zwar nach dem süßen, dem untätigen Leben, aber wir können es kaum ertragen.
Das war schon einmal anders in der Menschheitsgeschichte. In der Antike pflegten die Eliten, schmausend, schäkernd und philosophierend, eine vita contemplativa, ein betrachtendes Leben, und schämten sich dessen nicht. Die via activa, das aktive Leben, war den hart arbeitenden Sklaven und proles (Proletariern) vorbehalten. Für die Christenheit ist die Kontemplation nur ein Begriff für innere Einkehr und geistliche Übung. Ansonsten wird malocht. „Ora et labora“, bete und arbeite, ist bis heute die Parole der Benediktiner. Die acedia – die Faulheit und Trägheit des Herzens – gilt als eine der sieben Todsünden.
Wer faulenzt, sagt die christliche Ethik, wird eine Trübung des Willens und den Verlust der Tatkraft erleiden. Schon die wohlhabenden Helden vieler Romane des 19. und frühen 20. Jahrhunderts leiden unter l’ennui, der mit Überdruss verbundenen Langeweile, der Inhaltslosigkeit. „Wenn ich im Grunde meines Wesens schwach bin, brauche ich eine Arbeit“, denkt sich der Millionenerbe Anthony Patch in F. Scott Fitzgeralds 1922 erschienener Erzählung „Die Schönen und Verdammten“. Die Faulheit bringt ihm nur Frust. Und auch die schlecht gelaunte Volksweisheit warnt: „Müßiggang ist aller Laster Anfang!“
Kein Wunder, dass wir unsere eigene Faulheit fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Disziplin und Selbstkontrolle sind die gepriesenen Tugenden der postindustriellen Handels- und Dienstleistungsgesellschaft. „Das Recht auf Faulheit“, das der französische Denker und Sozialist Paul Lafargue schon 1880 dem „Recht auf Arbeit“entgegensetzte, ist immer noch recht schwach auf der Brust. Der Kapitalismus hat, wie Lafargue feststellte, eine „Liebe zur Arbeit“erzeugt, „die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht“.
In der Gegenwart ist diese Sucht mit dem Selbstbild des erfolgreichen Menschen gekoppelt. Sogar Leute, die sich auf ihren Aktienfonds ausruhen könnten, stürzen sich in anstrengende Finanzgefechte. Keiner will als Faulenzer, Drückeberger und Schmarotzer gelten. Alle wetteifern, wie Kulturforscher Grünewald schreibt, „um den inoffiziellen Titel des Verausgabungsmeisters“. Die Deutschen sind übrigens ganz vorn dabei. Einerseits trennen sie Arbeit und Privates viel rigoroser als die Lebenskünstler aus den Mittelmeerländern, andererseits sind sie stolz auf ihren 18-Stunden-Tag. Nur Loser achten auf den pünktlichen Feierabend, Gewinner machen weiter – bis zum Burn-out.
Nicht ohne Grund hat das Wort „faul“im Deutschen eine Doppelbedeutung: Es bezeichnet untätige Menschen und verrottete Gegenstände oder verdorbene Lebensmittel. Ein ganz schlechtes Image hat sie bei uns, die Faulheit. Und wenn man den Begriff mal googelt, erscheinen da an zweiter Stelle gleich unter Wikipedia „Fünf Tipps, wie Sie Ihre Faulheit überwinden“. Nein danke! Ich brauche eher ein bisschen Ermutigung zum unbefangenen Faulsein. Denn nur aus der Entspannung und dem spielerischen Gedanken entsteht Kraft für kommende Herausforderungen. Zeitverschwendung kann sogar richtig kreativ sein. Unter Umständen erfindet der Faulpelz ganz nebenbei neue Apparate oder Methoden zur Arbeitserleichterung. „Phasen der Langeweile oder die nicht ritualisierten Zeiten des Faulenzens, Wartens oder Umherstreifens sind schöpferische Zustände“, versichert Experte Grünewald.
Nun ja. Das klingt auch wieder seltsam. Als sei die Faulheit nur gut, wenn sie zu einem effektiven Ergebnis führt. Ich glaube, die wahre Faulheit ist wie ein Tag im Strandkorb – ohne Gymnastikkurs, aber mit einem guten, altmodischen Buch. Man liest ein bisschen und guckt auf das ewig rauschende Meer. Man sieht, wie die Krabbenkutter am Horizont entlangfahren. Man lächelt über eine Möwe, die versucht, den Urlauberkindern ihre Kekse wegzuschnappen. Vielleicht steht man zwischendurch mal auf, um in der Strandhalle einen Milchreis mit Zimt und Zucker zu essen oder absichtslos am Wasser entlangzuschlendern. Vielleicht findet man ein paar schöne Muscheln.
Solche Faulheit lobe ich mir. Das übe ich demnächst an der Nordsee. Und danach mache ich weiter im Alltag. Genieße meine Freiheit ohne Festanstellung. Flaniere an einem Werktag durch die Stadt. Treffe meine Freundinnen, wenn andere im Büro sitzen. Trinke Cappuccino in der Sonne, sehe einen Kunstfilm in der Originalversion und plaudere ein bisschen. Zu Hause höre ich französische Chansons. Ich hole sie wieder hervor, meine natürliche Faulheit, und füttere damit meine Schaffensfreude. Denn wie sagt Adalbert Stifter (1805-1868), der Erzähler des österreichischen Biedermeiers, so trefflich? „Nur die Ruhe in uns selbst lässt uns sorglos zu neuen Ufern treiben.“