Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Heute auf den Tag genau vor 75 Jahren wurde Paul Kahn ins KZ deportiert.
Heute vor genau 75 Jahren wurde Paul Kahn in das KZ Theresienstadt deportiert
LAICHINGEN/BUTTENHAUSEN - In einem Gestapo-Erlass von Mitte August 1942 an die Landrats- und Bürgermeisterämter wurde eine der umfangreichsten Aktionen in Württemberg „Betr.: Abschiebung von Juden“angekündigt: „Am 22. 8. 1942 geht von Stuttgart aus ein Transport mit Juden nach dem Protektorat“– über 1000 Juden wurden vom Nordbahnhof deportiert ins KZ Theresienstadt bei Prag, darunter Paul Kahn (18691942), der Mitbegründer der „Mechanischen Leinenweberei Laichingen“.
„Das ist der Weg nach Theresienstadt, / Den Tausende mühsam beschritten. / Und jeder von all den Tausenden hat / Das gleiche Unrecht erlitten“, heißt es in einem Gedicht von Ilse Weber (1903-1944, KZ Auschwitz). Und weiter: „Sie gingen ihn mit gesenktem Haupt, / Den Davidstern über dem Herzen, / Die müden Füße wund und bestaubt, / Die Seelen zerquält von Schmerzen... Das ist der Weg nach Theresienstadt, / Der unser Herzblut getrunken, / Wo sterbend auf den steinigen Pfad / Manch müder Greis gesunken.“Alfred Rudolf Kahn-Kandler (1900-1974), der Sohn von Paul Kahn, gelang es noch rechtzeitig, in die USA zu emigrieren. Er beschrieb in seinem Lebensbericht „In der Höhle des Löwen“den Leidensweg seines Vaters, der von Stuttgart nach Buchau zwangsumgesiedelt worden war und dann vor 75 Jahren von den Nazis nach Theresienstadt verschleppt wurde. „Vater hatte schon mehrere Jahre mit Prostata- und Blasenleiden zu tun gehabt, hatte es aber mit Hilfe von Medikamenten unter Kontrolle. In Theresienstadt gab es diese Medikamente nicht, und so starb er dort wenige Wochen nach seiner Ankunft.“Es war der 3. Oktober 1942. Später ließ Alfred Rudolf Kahn-Kandler den Namen seines Vaters auf dem Stein der Familiengrabstätte auf dem Stuttgarter Pragfriedhof eingravieren. In Laichingen gab es bis 1933 eine Heinrich Kahn-Straße, und es gibt sie wieder seit 1945, benannt nach Paul Kahns Vater.
33 000 gingen elend zugrunde
141 000 jüdische Menschen wurden bis 1945 in Theresienstadt zusammengepfercht. 33 000 gingen elend zugrunde; 88 000 wurden weiter deportiert in die NS-Vernichtungslager Auschwitz, Majdanek, Treblinka, Sobibor und Maly Trostinec. „Arbeit macht frei“stand über dem Eingangstor – aber die Heimkehr nach Hause war den Inhaftierten, bis auf ganz wenige, verwehrt.
„Ich wandere durch Theresienstadt, / Das Herz so schwer wie Blei, / Bis jäh mein Weg ein Ende hat, / Dort an der Bastei.“Die Verse von Ilse Weber wurden im Getto weiterverbreitet: „Nach Haus“– „du wunderschönes Wort, / Du machst das Herz mir schwer. / Man nahm mir mein Zuhause fort. / Ich habe keines mehr.“
85 Juden aus Buttenhausen und 44 Juden aus dem „Altersheim“Tigerfeld bei Pfronstetten waren bereits am 19. August 1942 unter Polizeiaufsicht nach Stuttgart zwangsverschleppt und bis zur Abfahrt des Deportationszuges, drei Tage später, auf dem Killesberg in einem Sammellager zusammengepfercht worden. In dem Gedenkbuch „Juden und ihre Heimat Buttenhausen (telefonisch erhältlich: 07123 / 87710) sind alle jüdischen Namen von der Münsinger Alb verzeichnet. Auf den drei Buttenhäuser Gedenksteine stehen nur 23 Namen. Der letzte jüdische Gemeinderat, Salomon Löwenthal, litt zu Ende, 63-jährig, entkräftet in Theresienstadt auf dem Boden liegend, von unzähligen Fliegen bedeckt, am 11. September 1942. Theodor Rothschild, langjähriger Direktor des jüdischen Waisenhauses in Esslingen, ein Vater der Bedürftigen, betreute im KZ erst über 1000 Menschen, nach vier Wochen waren noch 400 übrig. Oberlehrer Naphtali Berlinger, der lange Jahre die Lehrerfortbildung im Schulamtsbezirk Münsingen leitete, und Karl Rothschild, schrieben noch wenige Briefe an ihre ausgewanderten Angehörigen. Elfriede Spiro fuhr – wie HAP Grieshaber in seinem „Sühneengel“festgehalten hat – fahrplanmäßig zu ihren Mördern: „Die Tochter des Germanisten Dr. Ludwig Spiro und der Jertha geborene Schweitzer aus Buttenhausen hat noch einen Schnappschuss arrangieren können und gebeten, das Photo zusammen mit einem Vers von Ovid“dem Künstler zukommen zu lassen.
Am 29. August 1942 war in der gleichgeschalteten Heimatzeitung von der Alb, „Alb Bote“, zu lesen: Buttenhausen sei „froh, dass es für immer von der jüdischen Pest erlöst ist“. Vorbei und vergessen? Im Jahr 2017 war bisher nirgends zu lesen, dass die Enkel oder Urenkel der Münsinger Arztwitwe Särchen Levi oder noch lebende Nachfahren der Buttenhäuser Familien Löwenthal, Levi, Rothschild, Berlinger, Marx, beziehungsweise die Nachfahren der Laichinger Unternehmensfamilie Kahn offiziell eingeladen wurden, auf Kosten der beiden Alb-Städte oder der Landkreise die alte Heimat ihrer vor 75 Jahren in die Vernichtungslager verschleppten Vorfahren und ihrer ins Exil verjagten Großeltern besuchen zu können.