Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Hörspielreise durchs Ulmer Münster
Eine neuartige App hilft, die berühmte Kirche intuitiv zu entdecken
Im Ulmer Münster bewahrheitet sich in diesen Sommertagen der dem Schriftsteller Theodor Fontane zugeschriebene Satz: „Man sieht nur, was man weiß.“Denn viele Touristen schlendern durch das Gotteshaus und wissen – offensichtlich nichts. Darum sehen sie auch nichts. Sie blicken auf den Schalldeckel über der Kanzel, betrachten das IsraelFenster. Und ihnen ist anzumerken, dass sie nichts von dem, was sie anschauen, verstehen. Eine neue App schafft Abhilfe: kostenfrei, unterhaltend, informativ.
Geschichte und Geschichten
Das Programm, das auf den entsprechenden Portalen heruntergeladen werden kann, lässt die Geschichte und Geschichten des berühmten Bauwerks erlebbar werden. An zehn Orten versetzen dialogische Szenen den Münsterbesucher hinein in die Momente aus Zeiten, die das Gesicht des Münsters veränderten und für die Stadt und die Kirche wichtig waren.
Die App führe durch eine Art Hörspielreise zu verschiedenen Stationen des prominenten Bauwerks, erläutert der evangelische Dekan Ernst-Wilhelm Gohl. Die Geschichten, die dabei erzählt werden, seien „atmosphärisch dicht inszeniert“und verschafften einen natürlichen Höreindruck, so Gohl. Ungefähr eine Stunde lang dauert diese ungewöhnliche Reise.
Während die Nutzer mit aktivierter App durch das Münster schlendern, hören und erleben sie Geschichten aus der Geschichte. So kann sich der Nutzer etwa bei einem Gespräch anwesend fühlen, das nach der Annahme der Reformation in Ulm geführt worden sein könnte. Darin geht es um die Entfernung von Heiligenbildern und der beiden Orgeln aus dem Münster zum „Götzentag“, dem 19. Juni 1531, als über 60 Altäre aus dem Münster geschafft wurden. Auch die Luftangriffe auf die Stadt Ulm während des Zweiten Weltkriegs spielen eine Rolle. Das Münster überstand sie fast unbeschadet.
Geheimnisse des alten Münsters
Das Ulmer Münster hat viel zu erzählen: Im 14. Jahrhundert von der Ulmer Bürgerschaft in gewaltigen Dimensionen für die Ewigkeit geplant, bei den Bauarbeiten teilweise eingestürzt, über viele Jahrhunderte baulich weiterentwickelt und von der Reformation geistig erneuert. Geschichten von Bürgern, Unterstützern und Zweiflern, Handwerkern und Baumeistern. Sie alle erzählen von der Entstehung und von den Geheimnissen des alten Münsters.
Die App nimmt sich auch schwieriger Themen an. Beispielsweise der Figur des Erzengels Michael, aufgehängt von den Nationalsozialisten im Jahr 1934, die heute als revanchistisches Kriegsdenkmal bewertet wird: „Die Figur ist Teil der Ulmer Stadt- und Kirchengeschichte und sorgt bis heute für Diskussionen. Sie konfrontiert uns mit einem Teil unserer Vergangenheit, der nicht in Vergessenheit geraten darf “, heißt es auf einer Tafel.
Die App folgt dem Besucher
Nun gibt es seit Jahren Audioguides und Apps zu unterschiedlichen Sehenswürdigkeiten. Doch folgen die Besucher hier einem Schema. Im Ulmer Münster ist es anders: Für die Besucher vor Ort wurden über 60 iBeacons (bluetoothgesteuerte Sensoren) in der Kirche angebracht, um die Audioszenarien intuitiv erlebbar zu machen. Das heißt: Der Besucher bewegt sich durch den Kirchenraum, während die App ihm folgt. Diana Schniedermeier von der Interactive Media Foundation, die dieses ungewöhnliche Projekt umgesetzt hat, erläutert: „Wir wollten etwas Besonderes bieten: Keine normale App und keinen Audioguide. Besser, emotionaler! Das ist dank der tollen Projektpartner gelungen. Während Nutzer mit aktivierter App durch das Münster schlendern, hören und erleben sie atmosphärisch dicht inszenierte Kapitel.“
Fachleute schwärmen mittlerweile von der „dreidimensional-räumlichen Soundgestaltung“. Durch eine spezielle – binaurale – Aufnahmetechnik soll bei der Wiedergabe über Kopfhörer ein natürlicher Höreindruck erreicht werden, der dann die Illusion verschafft, dass die Geräusche tatsächlich aus einer bestimmten Richtung kommen. Ein besonderer Clou: Das Erzählte kann über die Informationsebene der App vertieft werden.
Digitale Stadtkampagne
Die neue App ist Teil der digitalen Stadtkampagne „Ulm-Stories“, die die Stadtgeschichte mit neuen Techniken erfahrbar machen will. Dazu gehört unter anderem auch ein Flugsimulator, mit dem man rund ums Münster und durch die Ulmer Altstadt zur Zeit um 1890 fliegen kann. „Ulm-Stories“wurde durch die Familie Kress, Gründer der bekannten Ulmer Gartengerätemarke Gardena, vorgedacht, entwickelt, umgesetzt und finanziert.
Nach einem App-Besuch steht fest: Man weiß mehr, man versteht mehr, man sieht mehr. Und das Münster lässt sich neu entdecken.