Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Menschen mit Behinderung kritisieren Ausschluss
Bundestagswahl: Bewohner des Heggbacher Wohnverbunds sind nicht betroffen, haben aber eine klare Meinung
EHINGEN - Weil sie aufgrund einer Behinderung in allen Angelegenheiten betreut werden, dürfen laut Ulla Schmidt (SPD), Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, 84 000 Menschen bei der Bundestagswahl am 24. September keine Stimme abgeben. Die Begründung für den Ausschluss: Sie könnten selbst keine Wahl treffen und seien leicht beeinflussbar. Bewohner des Heggbacher Wohnverbunds der St. ElisabethStiftung in Ehingen kritisieren das.
„Das finde ich nicht gut. Jeder hat das Recht zu wählen“, sagt Sven Obermeier aus dem Marianna-Bloching-Haus. „Ich finde das geht gar nicht. Jeder soll selbst entscheiden, ob er wählen gehen möchte“, erklärt Patrick Marx aus einer Wohngemeinschaft in der Innenstadt. „Wenn jemand sagt, er will nicht wählen, sollte man ihn nicht dazu zwingen. Aber das Recht dazu sollen alle haben.“
Vom Wahlrecht sind die Bewohner in Ehingen selbst nicht ausgeschlossen. Wohnbereichsleiterin Sonja Gaißmaier weiß allerdings von einem Betroffenen aus dem Bereich Ochsenhausen:
„Er kann lesen und fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln, steht aber unter Totalbetreuung“, erklärt sie. „Für ihn ist es nicht verständlich, warum er nicht wählen darf.“Das sei gemein, sagt Obermeier sofort. „Das ist übel“, meint auch Marx. Für Menschen mit schwerster Behinderung allerdings sei das Wählen schon schwierig, erklärt Gaißmaier. „Es ist schwierig, neutral herauszufinden, was sie wählen möchten.“
Einige der Bewohner des Heggbacher Wohnverbunds in Ehingen wissen schon, wen sie im Herbst wählen werden. Und sie haben Themen, die ihnen besonders am Herzen liegen: „Für mich ist wichtig, dass Flüchtlinge Arbeit finden“, sagt Michael Michalke. „Mein bester Freund kommt aus Gambia.“Marx findet: „Die Polizei sollte Anschläge besser in den Griff kriegen. Solche Dinge schockieren mich und sollten nicht mehr passieren.“Außerdem sollten alle den gleichen Lohn bekommen, findet er. „Was wir Behinderte verdienen ist nichts, im Gegensatz zu den Anderen.“
Untereinander in den Wohngruppen würden sie eher nicht über Politik sprechen, sagt Obermeier. Jeder informiert sich aber auf seine Art. Marx etwa guckt viel Nachrichten und nutzt online einen Wahl-O-Mat. Vor kurzem hat eine Gruppe aus Ehingen auch einen Ausflug zum Bundestag gemacht und dann gab es ja noch die Podiumsdiskussion mit den Bundestagswahlkandidaten in der Ehinger Lindenhalle. Außerdem steht den Bewohnern ein eigens zusammengestellter Ordner mit Informationen zur Wahl und Bildern der Kandidaten zur Verfügung.
Manche der Bewohner werden im September wählen gehen, manche nicht. „Das entspricht dem Querschnitt durch die Gesellschaft“, sagt Gaißmaier. Selbstständige Bewohner könnten entscheiden, ob sie ins Wahllokal gehen möchten. „Sonst machen wir Briefwahl, das ist für uns geschickter“, sagt Marx. „Besonders für die, die nicht so gut lesen können“, ergänzt Gaißmaier. Im Wohnbereich könnten die Bewohner Hilfe von Mitarbeitern bekommen. Die könnten sich zwar auch als Begleitung im Wahllokal anmelden, doch da ließen sich die Hemmungen der Bewohner nicht so leicht überwinden. Toll wäre es, wenn Fotos und Logos der Parteien auf dem Wahlzettel mit dabei wären. „Dann könnten sie komplett selbstständig wählen.“
Für Menschen in Totalbetreuung hat sich in zwei Bundesländern bereits etwas getan: Auf Landesebene sind sie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein nicht mehr von Wahlen ausgeschlossen. „Meine Hoffnung ist, dass sich auch in Baden-Württemberg etwas ändert“, sagt Gaißmaier.