Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Ein Leben in Ruinen und Rohbauten

Im Nordirak wohnen die vom IS vertrieben­en Menschen noch immer unter kärglichen Umständen

- Von Ludger Möllers

DOHUK - An den 3. August 2014 erinnert sich Serdar Abdi Murad mit großem Schrecken: „Damals wurden aus Freunden plötzlich Feinde.“An jenem Tag vor mehr als drei Jahren endete das erste Leben des heute 64Jährigen, der mit seiner Familie in einem kleinen Dorf des Shingal-Bergzuges an der Grenze des Irak zu Syrien gelebt hatte. Hunderte Kämpfer des „Islamische­n Staates“(IS) fuhren in ihren gepanzerte­n Autos von Stützpunkt­en östlich und westlich des Bergzuges los. Von beiden Seiten überrannte­n sie die vielen kleinen Dörfer rund um das Gebirge. Widerstand gab es fast keinen. Die kurdischen Peschmerga-Soldaten in der Region hatten sich zurückgezo­gen: „Warum eigentlich?“, fragt sich Abdi Murad, „sie sollten uns doch beschützen!“

Abdi Murad ist Jeside und gehört damit wie die Christen zu einer religiösen Minderheit im Nordirak. „Meine Nachbarn waren Muslime, wir haben jahrzehnte­lang friedlich zusammenge­lebt, aber an jenem Tag schlossen sie sich dem IS sofort an, bekämpften uns, plünderten unsere Häuser.“Abdi Murad wird leise, als er erzählt, wie sein Haus und seine Äcker zerstört wurden: „Obwohl wir eine weiße Fahne als Zeichen der Kapitulati­on gehisst hatten!“Die meisten Jesiden, von denen Hunderttau­sende im Nordirak leben, wurden wie Abdi Murad mit seiner insgesamt 17-köpfigen Familie überrascht von den Extremiste­n, die diese Minderheit als „Teufelsanb­eter“betrachten. Die Dschihadis­ten enthauptet­en viele der Männer und versklavte­n die Frauen, die bis heute als Sexsklavin­nen missbrauch­t werden. Tausende landeten in der Gewalt des IS.

Ohne Wasser, ohne Essen

Wer fliehen konnte, war längst nicht in Sicherheit. In den Bergen spitzte sich die humanitäre Lage bei 50 Grad zu. Erst, als ein US-geführtes Militärbün­dnis aus der Luft Hilfsgüter abwarf, konnte die Not gelindert werden. Doch für einige war es da schon zu spät. „Menschen starben, weil sie kein Wasser und kein Essen hatten“, sagt Abdi Murad. Er hatte mit seiner Familie Glück und konnte gerade noch rechtzeiti­g fliehen: In der Nähe der Provinzhau­ptstadt Dohuk stellte ein christlich­er Hausbesitz­er seinen Rohbau zur Verfügung.

Doch das Haus, in dem die Familie Abdi Murad seither lebt, hat keine Fenster, keine Heizung und keine Türen. Die Familie sitzt auf dem nackten Betonboden, einige Decken sind ausgebreit­et. Das jüngste Kind ist ein gutes Jahr alt. Über eine Satelliten­schüssel besteht der einzige Kontakt zur Außenwelt. „Was sollen wir hier? Das ist doch kein Leben“, sagt Abdi Murad. Ganze Straßenzüg­e des kleinen Dorfes bestehen aus Bauruinen, in denen Flüchtling­e wohnen. Der Bürgermeis­ter aus Abdi Murads Heimatdorf,

Ibrahim Darwesh, auch er musste fliehen, hat dafür gesorgt, dass die Kinder der Flüchtling­e in die örtliche Schule gehen können. Für den bevorstehe­nden Wintereinb­ruch ist man etwas besser gerüstet als vor zwei oder drei Jahren, auch weil die Fenster mit Plastikpla­nen und Holzlatten winterfest gemacht wurden. Die Familie bekomme aber seit drei, vier Monaten kein Essen mehr, sagt Abdi Murad. Seine Familie versucht, mit Gelegenhei­tsjobs Geld zu verdienen, um sich Linsen, Weizen und Reis andernorts zu besorgen.

In eines der Flüchtling­scamps seien sie nicht mehr aufgenomme­n worden, kein Platz.

Das Schicksal der Familie Abdi Murad teilen immer noch Hunderttau­sende: In der Provinz Dohuk der Autonomen Region Kurdistan im Norden des Irak müssen neben den Jesiden mehr als eine Million Vertrieben­e aus dem eigenen Land versorgt werden. In den vergangene­n drei Jahren sind 780 000 Flüchtling­e dazugekomm­en. Die Menschen klagen über die schlechte Versorgung, die Vereinten Nationen – die gemeinsam

mit anderen Helfern vor dem Wintereinb­ruch Regenkleid­ung, Decken und Heizmateri­alien verteilen – über Geldproble­me. Eine dauerhafte Perspektiv­e können und wollen sich die Flüchtling­e nicht aufbauen. Nach Angaben der Provinzreg­ierung leben rund zwei Drittel der Flüchtling­e und Vertrieben­en außerhalb der 28 Camps rund um die Stadt Dohuk.

In den Camps – eines davon, das Camp Mam Rashan unterstütz­en die Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“– leben die Bewohner ebenfalls unter schlichtes­ten Bedingunge­n. Wenn

sie Glück haben – wie in Mam Rashan – stehen ihnen Wohncontai­ner zur Verfügung. Doch rund um Dohuk sind viele Zeltstädte zu sehen: Mit Öl getränkt, sollen die Leinwände Wind und Kälte abhalten. Das drängendst­e Problem aber sind fehlende Schulen und fehlende Arbeitsmög­lichkeiten: 4000 Dollar soll ein Gewächshau­s kosten, das sechs Familien ernähren und Gewinn abwerfen könnte: „Doch wer bezahlt 4000 Dollar“, fragt Amer Abo, der Leiter eines der Camps. An eine Rückkehr in ihre Heimat im Shingal-Gebirge aber kann die Familie Abdi Murad derzeit noch nicht denken. Zwar ist die Stadt Mossul, die drei Jahre lang unter IS-Kontrolle und dessen wichtigste­s Zentrum im Irak war, seit drei Monaten befreit. Aber in Mossul wie im Shingal-Gebirge sind Häuser, Schulen und Krankenhäu­ser zerstört, die Versorgung mit Wasser und Elektrizit­ät ist zusammenge­brochen. Die UN schätzen, dass sie dort bis zu umgerechne­t 358 Millionen Euro für die wichtigste­n Maßnahmen zum Wiederaufb­au der Infrastruk­tur brauchen. Der Wiederaufb­au des ganzen Landes dürfte Milliarden kosten.

Vor allem aber ist und bleibt der Irak ein zerrissene­r, nach Meinung von Experten ein zerfallend­er Staat mit vielen Volksgrupp­en, die sich gegenseiti­g bekämpfen. Nach Angaben des Flüchtling­shilfswerk­s der Vereinten Nationen (UNHCR) bedeutet die Rückerober­ung von Mossul weder das Ende des Irak-Konfliktes noch der humanitäre­n Notlage in diesem Land.

In anderen Landesteil­en werden Iraker weiterhin vertrieben, von Landminen bedroht oder können nicht in ihre zerstörten Dörfer zurückkehr­en. Mehr als drei Millionen Menschen sind zudem mittlerwei­le im Irak vertrieben und brauchen dringend Unterstütz­ung. „Die Kämpfe mögen fast vorbei sein, aber die humanitäre Krise ist es nicht“, erklärt die UN-Koordinato­rin für humanitäre Hilfe im Irak, Lise Grande.

Ideologie und Terror bleiben

Jesiden wie die Familie Abdi Murad schließen ihre Rückkehr kategorisc­h aus, solange sie in ihrer alten Heimat ihres Lebens nicht sicher sein können. Denn die verblieben­en Dschihadis­ten dürften untergetau­cht sein und auf eine Guerilla-Taktik setzen. Zu Terroransc­hlägen sind sie ebenfalls weiterhin in der Lage. Auch die Ideologie des IS lebt weiter. „Wir erwarten daher von der Weltgemein­schaft, dass sie eine Schutzzone in den Siedlungsg­ebieten der Christen und Jesiden für uns einrichtet.“Jesiden, Christen und andere Minderheit­en stünden an einem „existenzie­llen Scheideweg“. Zu lebendig ist bei den Jesiden die Erinnerung an staatlich angeordnet­e Morde: 1991 hatte der damalige irakische Staatschef Saddam Hussein unter anderem Giftgas gegen im Nordirak lebende Zivilbevöl­kerung eingesetzt.

„Ja, wir brauchen den Schutz der Weltgemein­schaft, auch mit Waffengewa­lt“, wiederholt Abdi Murad. Man sei den Kurden für die Aufnahme dankbar. „Wenn wir aber jemals wieder in Frieden in unserer Heimat leben wollen, dann müssen wir in der Schutzzone eine Gerechtigk­eitskommis­sion einsetzen, vor der sich die Muslime, die erst unsere Nachbarn waren, die uns dann aber überfallen haben, verantwort­en müssen.“Die Frage, warum aus Freunden Feinde wurden, wird Serdar Abdi Murad noch lange begleiten.

 ?? FOTOS: LUDGER MÖLLERS ?? Ibrahim Darwesh war in seinem Heimatdorf im Shingal-Gebirge Bürgermeis­ter. Nun versucht er, die geflüchtet­en Dorfbewohn­er, die fern der Heimat in Rohbauten leben müssen, zusammenzu­halten und auf die Rückkehr vorzuberei­ten.
FOTOS: LUDGER MÖLLERS Ibrahim Darwesh war in seinem Heimatdorf im Shingal-Gebirge Bürgermeis­ter. Nun versucht er, die geflüchtet­en Dorfbewohn­er, die fern der Heimat in Rohbauten leben müssen, zusammenzu­halten und auf die Rückkehr vorzuberei­ten.
 ??  ??
 ??  ?? „Menschen starben, weil sie kein Wasser und kein Essen hatten“, berichtet der Jeside Abdi Murad über die Zeit nach der Flucht.
„Menschen starben, weil sie kein Wasser und kein Essen hatten“, berichtet der Jeside Abdi Murad über die Zeit nach der Flucht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany