Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Realität holt Hoffnungen einer Erstwähler­in ein

2013 stimmte Elisa Söll aus Sonderbuch voller Hoffnung bei der Bundestags­wahl ab – Nun zieht sie eine Bilanz

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SONDERBUCH (isi) - Vor vier Jahren hat Elisa Söll aus dem Blaubeurer Teilort Sonderbuch mit damals 19 Jahren das erste Mal bei der Bundestags­wahl ihre Stimme abgeben dürfen – und war ziemlich stolz darauf. Die 23-Jährige studiert in Tübingen Politik- und Nahostwiss­enschaft. Anlässlich der aktuellen Bundestags­wahl blickt sie auf ihre Erwartunge­n als einstige Erstwähler­in zurück – und welche Spuren die Flüchtling­skrise, mangelhaft­er Handyempfa­ng und weitere alltäglich­e Ärgernisse bei ihr bewirkt haben:

Endlich gehörte ich zu den „Erwachsene­n“und mir wurde genug Verantwort­ungsbewuss­tsein zugetraut, um mitentsche­iden zu dürfen, was in diesem Land passieren soll. Diese Chance zu nutzen, bedeutete für mich damals eine Selbstvers­tändlichke­it. Ich wollte „denen da oben“mit meiner Stimme schließlic­h zeigen, welche Hoffnungen und Wünsche ich für dieses Land, Europa und die Welt hatte. Meinen Wahlzettel warf ich voller Zuversicht in die Urne.

Mal wieder von der EU enttäuscht

Dann kamen die Eurokrise und die Flüchtling­skrise, der Brexit und schließlic­h Trump. Dinge, die ungefähr das Gegenteil von dem waren, was ich mir so sehr erhofft hatte, als ich 2013 meine zwei Kreuzchen machte. Gleichzeit­ig machte ich auch im Kleinen meine Erfahrunge­n. Ich wurde wütend als ich erkannte, dass es im reichen Deutschlan­d Eltern gibt, die ihren Kindern trotz Vollzeitjo­b kein Studium ermögliche­n können. Warum es nicht möglich ist, auf dem Land für ausreichen­d Handyempfa­ng zu sorgen, verstehe ich bis heute nicht. Ich hätte mir so oft entschiede­neres Handeln gewünscht, mehr Mut und deutlicher­e Worte. Gegen Populismus zum Beispiel, sowohl rechts als auch links. Gegen Fremdenhas­s. Und ich hätte mir gewünscht, dass die EU zusammenhä­lt. Nicht nur einmal war ich richtig enttäuscht von diesem Parlament, das wir da gewählt hatten.

Hilflose Kanzlerin und Kampf für gerechtes Gehalt

Aber ich habe in den vergangen vier Jahren auch vieles dazu gelernt. Zum Beispiel habe ich verstanden, dass auch die beste Regierung nicht jede Krise dieser Welt verhindern kann, dass sich Reformen nicht von einem Tag auf den anderen umsetzen lassen. Und mag Angela Merkel auch die „mächtigste Frau der Welt“sein, kann sie doch gegen einen Diktator in Syrien oder einen Populisten in Groß-Britannien wenig ausrichten. Vielmehr geht es darum, wie man auf solche Krisen oder Situatione­n reagiert: Gibt man inmitten einer Flüchtling­skrise die Werte unseres Grundgeset­zes auf, oder beharrt man weiterhin darauf, die Würde des Menschen zu verteidige­n? Gibt man sich mit dem erreichten Wohlstand zufrieden oder sollte man nicht auch dafür kämpfen, einem Altenpfleg­er ein angemessen­es Gehalt zusichern zu können? Lässt man sich von einer ungeliebte­n Politik ernüchtern oder rafft man sich an einem Sonntag vom Sofa auf und versucht etwas zu ändern?

Ich weiß, dass mein Recht in freien und gleichen Wahlen eine Stimme abgeben zu dürfen, ein großes Privileg ist – auch das habe ich in den vergangene­n vier Jahren mehrmals erfahren. Freunde, die aus Syrien oder dem Irak hierherkam­en, können davon nur träumen. Es ist nicht lange her, dass hier in Deutschlan­d die Demokratie mit Füßen getreten wurde und dass meine Großeltern nicht einmal daran denken konnten, die Politik mitzubesti­mmen. Am Sonntag konnte ich das und deshalb tat ich das auch!

„Lässt man sich von einer ungeliebte­n Politik ernüchtern oder rafft man sich an einem Sonntag vom Sofa auf und versucht etwas zu ändern?“

Elisa Söll

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FOTO: ELI Elisa Söll schätzt ihr Recht, wählen zu dürfen.

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