Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Mit mehr Bewegung geben wir den Patienten ein Stück Autonomie zurück“
Kongresspräsident warnt vor unrealistischen Erwartungen nach dem Einsatz eines künstlichen Gelenks
Der Deutsche Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie 2017 (DKOU) lädt vom 24. bis 27. Oktober in Berlin zum wissenschaftlichen Austausch und zur Fortbildung ein. Das Motto für diese Veranstaltung lautet „Bewegung ist Leben“. Barbara Waldvogel hat sich mit dem Kongresspräsidenten Alexander Beck unter anderem über Operationstechniken mit Schwerpunkt Endoprothetik unterhalten. Beck ist Professor und Chefarzt der Abteilung Orthopädie, Unfall- und Wiederherstellungschirurgie am Klinikum Würzburg Mitte sowie Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des Berufsverbands für Orthopäden und Unfallchirurgen.
Warum wurde beim Kongressmotto das Thema Bewegung so herausgestrichen?
Wir möchten mit diesem Motto deutlich machen, dass Bewegung einen extrem hohen Stellenwert hat. Mit mehr Bewegung geben wir den Patienten ein Stück Autonomie zurück, entweder mit einer operativen Frakturversorgung, einer Endoprothese oder auch der konservativen Behandlung eines Bruches oder einer Verschleißerkrankung. Dabei sind die Ansprüche höchst unterschiedlich. Während alte Menschen oft schon zufrieden sind, wenn sie wieder alleine einkaufen können, haben jüngere Patienten ganz andere Bewegungswünsche. Im Grunde ist Bewegung ja auch ein hochdosiertes Medikament mit vielen positiven Wirkungen. Bewegung hilft bei Herz-KreislaufErkrankungen und schützt vor Depression und AlzheimerDemenz. Wer sich regelmäßig und ausreichend bewegt, hat auch seltener Arthrose und Rückenschmerzen. Das wollten wir mit diesem Motto deutlich machen.
Bewegung erhalten und wieder herstellen – das wird im Kongress-Vorwort als Kernaufgabe der Orthopädie beschrieben. Durch den wachsenden Anteil der älteren Bevölkerung ist der Bedarf an Unterstützung in diesem Bereich gestiegen. Stellen demnach die älteren und alten Menschen den Großteil der Patienten?
Alter ist ein Risikofaktor für eine Arthrose, deshalb brauchen viele alte Menschen irgendBei wann einen Gelenkersatz. Aber Alter ist nicht der einzige Risikofaktor. Übergewicht ist ein weiterer Risikofaktor, vor allem für die Knie-Arthrose. Wir thematisieren das seit geraumer Zeit. Metaanalysen haben gezeigt, dass sich das Risiko für eine Knie-Arthrose bei Übergewicht verdoppelt, bei Fettleibigkeit fast verdreifacht. Übergewicht beginnt bei einem Body-Mass-Index von 25, Fettleibigkeit oder Adipositas bei einem BMI von 30. Da ist zum einen das schiere Gewicht, das beim Stehen auf den Gelenken lastet, vor allem auf den Knien. Die Belastung wird dann beim Gehen noch größer. Wer 150 Kilogramm wiegt, belastet seine Gelenke im Gehen zum Beispiel wie jemand mit 225 Kilogramm im Stehen. Beim Laufen oder schnellen Gehen nimmt die Belastung noch weiter zu. Das muss man sich einmal klarmachen. Dann versteht man, warum Adipositas ein Risikofaktor für eine Knie-Arthrose ist. Übrigens: Wer fünf Pfund abnimmt, entlastet seine Knie beim Gehen bereits um 20 Kilogramm. Zehn Kilogramm Übergewicht sind bereits so belastend, als würden sie den gesamten Tag eine volle Gießkanne mit Wasser mit sich rumschleppen!
Welche Krankheitsbilder tauchen am häufigsten auf?
den Orthopäden: Arthrose und Rückenschmerz. Bei den Unfallchirurgen: Verletzungen an Knochen, Sehnen, Bändern und Weichteilen.
Wie kann man das Einsetzen einer Endoprothese verhindern oder verzögern?
Arthrose ist eine Alterserkrankung und es gibt auch eine gewisse genetische Disposition. Man kann niemandem eine Garantie geben, nicht an Arthrose zu erkranken. Es hilft allerdings, auf ein gesundes Körpergewicht zu achten, Gelenkverletzungen zu vermeiden und die Gelenke nicht über Gebühr zu belasten – weder im Beruf noch in der Freizeit. Ob jemand ein neues Gelenk bekommt, hängt auch sehr davon ab, wie viel Schmerzen er hat. Es gibt Patienten, die haben im Röntgenbild einen deutlichen Gelenkverschleiß, aber keine Schmerzen. Die werden auch nicht operiert, außer es ist zu erwarten, dass bei Fortschreiten der Arthrose die Knochensubstanz weiter erheblich zerstört wird. Bei anderen Patienten sieht man kaum etwas auf dem Röntgenbild, aber die Schmerzen sind unerträglich. Diese Patienten werden operiert, wenn die konservative Therapie keinen Erfolg hat.
Wie haben sich die Operationstechniken verändert?
Viele Ärzte operieren wie ich seit einigen Jahren hauptsächlich minimalinvasiv, also durch Muskellücken hindurch. Dabei werden weniger Weichteile verletzt, das Trauma ist geringer und die Rehabilitation geht schneller. Dabei hat sich zum Beispiel die AMIS Methode (Anterior Minimal Invasiv Surgery) für die Implantation von Hüftprothesen als eklatantester Fortschritt der letzten Jahrzehnte herauskristallisiert.
Spielt die Digitalisierung in den OP-Sälen eine zunehmend wichtigere Rolle?
Durch die Verwendung digitaler Bilddatensätze können wir heute Operationen noch besser planen, gerade auch für die Orientierung bei komplexen Operationen an der Wirbelsäule sind mehrdimensionale digitale Darstellungen von Vorteil.
Worauf soll ein Patient achten, wenn eine entsprechende Operation ansteht?
Es wäre gut, wenn man sich vor der Operation nochmals durchchecken lässt, um sicher zu gehen, dass sich keine schleichenden Infekte im Körper befinden. Besonderes Augenmerk muss hier auf die Zähne und den Urogenitaltrakt gelegt werden. Auch sollte bei Hüftoperationen (vor allem bei der AMIS Methode) ausgeschlossen sein, dass zum Beispiel ein Leistenpilz vorliegt.
Was kann man schon in jungen Jahren unternehmen, um seine Gelenke zu schonen?
Auf gesundes Körpergewicht achten, sich regelmäßig und angemessen bewegen, sich vor dem Sport vernünftig aufwärmen, massive Überbelastungen beim Sport oder im Beruf genauso vermeiden wie Verletzungen. Aber wie gesagt: Es gibt keine Garantie.
Jährlich werden ungefähr 400 000 künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt. Gleichzeitig müssen aber auch 42 000 Prothesen wieder ausgetauscht werden. Das ist für die betroffenen Patienten sehr belastend. Sehen Sie eine Möglichkeit, diese Zahl zu senken?
Revidiert werden vor allem Knie-Prothesen, nicht so sehr die Hüft-Prothesen. Die Antwort geht in zwei Richtungen. Zum einen werden uns individuelle Schneidschablonen aus dem 3-D-Drucker in der Knieendoprothetik weiterbringen. Schneidschablonen sind ein präzises Abbild des jeweiligen Arthroseknies und zeigen uns exakt, wo die relevanten anatomischen Strukturen liegen, die wir für die korrekte Positionierung des künstlichen Knies brauchen. Implantate können über diese Schneidschablonen sehr viel präziser positioniert werden. Die Zukunft sollte hoffentlich zeigen, dass ein Teil der Revisionen überflüssig werden und die Standzeiten sich verlängern.
Aber meine Antwort geht auch noch in eine andere Richtung. Viele Knie-Prothesen werden revidiert, weil die Patienten unzufrieden sind. Auf dem Röntgenbild kann man oft gar keinen Grund für eine Revision erkennen. Das Gelenk wird dann trotzdem ausgetauscht. Ich glaube, dass wir in vielen Fällen realistischere Erwartungen an das Behandlungsergebnis wecken müssen. Ich glaube, dass ein Teil der Revisionen mit unerfüllten Erwartungen zu tun hat. Der Patient möchte, dass das erreicht wird, was ihm im Vorfeld versprochen oder suggeriert worden ist. Bilder von Senioren, die mit einer künstlichen Hüfte die Skipiste herunterschießen und von Marathonläufern mit einem künstlichen Knie wecken bei vielen Patienten unrealistische Erwartungen. Wir können einem geriatrischen Patienten nicht seine jugendliche Beweglichkeit zurückgeben. Das ist unrealistisch und da sollten wir auch ehrlich zum Patienten und seinen Angehörigen sein. Last but not least müssen leider immer wieder Prothesen wegen eines Infekts ausgetauscht werden. Häufig sind das Infekte, die im Körper kursieren und sich dann leider an dem Kunstimplantat, sprich der Prothese, festsetzen, also eine Streuung über das eigene Blut.
Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Endoprothesenregisters ein? Warum ist die Beteiligung noch immer freiwillig?
Die Deutsche Gesellschaft für Endoprothetik (AE), eine Sektion der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), hat erst im vergangenen Dezember gefordert, dass sich alle Kliniken in Deutschland, in denen Gelenkprothesen eingesetzt werden, am Endoprothesenregister beteiligen sollten. Das Bundesministerium für Gesundheit arbeitet an der verbindlichen Einführung eines zentralen Implantateregisters für alle Implantate. Die bestehenden Register für Endoprothesen, Aortenklappen und Herzschrittmacher werden dann möglicherweise alle in diesem zentralen und verpflichtenden Implantatregister aufgehen.