Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Kohl schickt Blumenstrauß ans Krankenbett
Zeitzeuge erinnert sich: CSU-Abgeordneter Fritz Wittmann verliert bei dem Unfall ein Bein
MÜNCHEN (lejo) - „Mir geht es zunehmend schlechter. Beim Gehen brauche ich Hilfe“, klagte Fritz Wittmann schon vor einigen Jahren, als er sich an das Schießunglück in Münsingen erinnerte. Damals wäre er um Haaresbreite ums Leben gekommen. Der heute 84-jährige Münchner hat am 3. Oktober 1983 auf dem Truppenübungsplatz ein Bein verloren. Außer ihm gab es noch weitere 23 teilweise schwer verletzte Zuschauer und zwei tote Offiziere.
Der 3. Oktober 1983 ist ein schöner Tag. Über dem Truppenübungsplatz Münsingen lacht die Sonne. Mehr als 800 geladene Gäste verfolgen gespannt die Schauübung der Heimatschutzbrigade 56. Mit dabei ist als wehrübender Reserveoffizier Fritz Wittmann im Dienstgrad Major. 50 Jahre alt ist der Politiker, der für die CSU im Bundestag sitzt. „Unvernünftigerweise“, wie er eingesteht, klettert er auf das Dach des olivgrünen Lkw, auf dessen Ladefläche die anderen Beobachter bereits Platz genommen haben.
Wittmann kennt die Männer der fünften Kompanie des Panzergrenadierbataillons 561 aus München. „Jetzt müssten sie eigentlich den Nebel abschießen“, denkt Wittmann, der mit dem Fernglas die Szenerie beobachtet. Es ist 14.20 Uhr. Um alles genau im Blick zu haben, steht er auf. In diesem Augenblick hört er „einen riesen Kracher“und fällt auf den Hosenboden. „Das hat aber gesessen“, denkt er noch bei sich und hört auf einmal schreiende Menschen rund um den Lkw. Im selben Augenblick merkt er, dass aus seinem linken Bein „Blut rauskommt“und im rechten Arm Splitter stecken. Ein alter Freund, der unverletzt neben ihm auf dem Dach sitzt, zieht sofort seinen Gürtel aus der Hose und bindet das Bein ab.
Rund um den Zehn-Tonner herrscht heilloses Durcheinander. Wittmann nimmt schwer verletzte Menschen am Boden wahr und sieht im rechten Augenwinkel das tiefe Loch, wo vor ein paar Sekunden eine scharfe Mörsergranate eingeschlagen ist. Überall herrscht ein „totales Tohuwabohu“. Planlos laufen Menschen durch die Gegend, andere gehen in Deckung. Ein paar Meter vor Wittmann liegen Leute, die sich nicht mehr bewegen können.
Knapp zehn Minuten später treffen die ersten Sanitäter der Bundeswehr ein. Um 14.36 Uhr landet der erste von fünf Rettungshubschraubern, die aus allen Himmelsrichtungen einschweben. Wittmann redet die ganze Zeit mit seinem alten Kumpel über vergangene Tage. „Nur nicht bewusstlos werden, viel erzählen“, denkt der Schwerverletzte, der in diesen Minuten keine Schmerzen spürt. Er hat einen Schock.
Erst nach 30 Minuten kümmern sich französische und deutsche Sanitäter um den schwer verletzten Politiker. „Die haben mich auf dem LkwDach nicht vermutet, deshalb hat es so lange gedauert“, erzählt Wittmann. Mit dem Krankenwagen fahren sie ihn und drei andere Verletzte ins Münsinger Krankenhaus, wo auf den Fluren überall Menschen mit großen Pflastern und Verbänden auf den Stühlen sitzen. Einige Ärzte kümmern sich um Wittmann, der nicht nur am Bein, sondern am ganzen Körper blutverschmiert ist.
„Tun sie es, wenn es sein muss“
Vier Stunden später bringt ihn ein Hubschrauber in die Uni-Klinik nach Ulm. „Es könnte sein, dass wir ihr Bein abnehmen müssen“, diagnostizieren die Ärzte. „Tun sie es, wenn es sein muss“, antwortet der CSU-Politiker trocken. In diesem Augenblick betritt mit Mundschutz und Kopfhaube ausstaffiert Verteidigungsminister Manfred Wörner den Vorraum des Operationssaales. Sein schwer verletzter Parteifreund lächelt und winkt ihm zu. „Der Wittmann hat mich erkannt, dann geht es aufwärts“, teilt der Minister am nächsten Tag in der Fraktionssitzung in Bonn mit. Die Bild-Zeitung schreibt auf der Titelseite: „Münsingen: Granate riss Strauß-Freund Bein ab.“
Wenige Tage später wird Wittmann nach München verlegt. „Ich habe wahnsinniges Glück gehabt, dass ich mit dem Leben davon gekommen bin“, erzählt der CSU-Politiker seinem Generalsekretär Gerold Tandler und dem Vorsitzenden der Landesgruppe, Theo Waigel, die ihn am Krankenbett besuchen. Auf dem Nachttisch steht ein großer Blumenstrauß, den Bundeskanzler Helmut Kohl hat vorbeibringen lassen. Wittmann schickt ihn weniger später der fünften Kompanie des Panzergrenadierbataillons 561 als Zeichen „der weiteren Freundschaft und Verbundenheit“.
Monate später überweist die Bundeswehr dem Abgeordneten ein Schmerzensgeld. Außerdem sichert Wörner dem Schwerbehinderten eine Beschädigtenrente zu. Obwohl Wittmann eine Beinprothese trägt, nicht mehr so gut hört und der Mittelhandknochen der linken Hand verkürzt ist, nimmt der inzwischen zum Verteidigungsausschuss gehörende CSUMann „mit einer Sondergenehmigung“als Reserveoffizier regelmäßig an Wehrübungen teil. „Ich durfte überall mitmachen, nur in ein U-Boot und in ein Strahlenflugzeug ließen mich die Militärs nicht“, erinnert sich der Politiker, der bis 1998 die bayerische CSU im Bundestag vertreten hat. Außerdem war Wittmann von 1994 bis 1998 Präsident des Bundes der Vertriebenen und bis 2000 stellvertretender Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Gegen die beiden Soldaten, die vor 30 Jahren das Schießunglück zu verantworten hatten, hegt er bis heute keinen Groll. „Ich kannte die beiden Männer, es waren zwei pflichtbewusste Soldaten, die dummerweise einen formalen Fehler gemacht haben.“
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