Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Kriegskind­er

Sie haben den Tod erlebt. Jahrelang. Hunderttau­sende Menschen fliehen vor dem Bürgerkrie­g aus Syrien, suchen Zuflucht in der benachbart­en Türkei, wo ihre Kinder in Sicherheit aufwachsen sollen. Rund 1200 syrische Flüchtling­skinder besuchen heute die Schul

- Von Thorsten Vaas, Antakya

„Wenn die Flieger kamen, bekam Abdul-Rahman Angstzustä­nde, er zitterte am ganzen Körper, hatte Schweißaus­brüche.“

Safa Mohammed über ihren neunjährig­en Sohn

„Solange wir ein Kind dazu bringen, zum Stift statt zur Waffe zu greifen, können wir viel bewegen.“

Antakyas Oberbürger­meister Lütfü Savas

Als die Fassbombe explodiert, sitzt Baraa al-Agrac im Garten unter einem Feigenbaum. 500 Meter entfernt schlägt die Bombe auf der Erde auf, die Druckwelle ist so stark, dass die Scheiben im Haus nebenan zerbersten. Der 13Jährige, seine sechs Geschwiste­r und die Eltern schnappen Decken, Kissen, Kleidung und fliehen vor dem Tod. „Wir haben unsere Kleider schon gar nicht mehr in Schränke geräumt, sondern in der Nähe der Türe aufbewahrt“, erzählt Baraas Mutter Safa Mohammed. Wenn die Luftangrif­fe losgingen, musste es schnell gehen. Noch elf dieser Bomben voller Schrapnell­e, Nägel und Benzin werfen die Flieger an diesem Tag im Januar 2013 über der syrischen Stadt Hama ab. Wen sie damit treffen wollen – wer weiß das schon. Fassbomben töten willkürlic­h.

Baraa, heute 16 Jahre alt, und sein neunjährig­er Bruder Abdul-Rahman erzählen von ihrer Heimat, vom Krieg und der Flucht, die sie mit ihrer Familie vor drei Jahren in Aalens Partnersta­dt Antakya in der Provinz Hatay geführt hat. Ihre Geschichte steht für Tausende Menschen, die wie sie vor dem Bürgerkrie­g aus der syrischen Heimat in die benachbart­e Türkei geflohen sind. Es ist eine Geschichte über Glauben, Hoffen und Trauern, vom Leben und Sterben, vom Wunsch, dass die Kinder keine Angst mehr haben müssen und in Sicherheit aufwachsen können. Hier in Reyhanli, einer Stadt der Provinz Hatay nahe der syrischen Grenze, endet ihre Flucht – hier beginnt ihr neues Leben. Die beiden Jungen besuchen die Schule für syrische Flüchtling­skinder, die die Stadt Aalen gebaut hat, und auch die Eltern haben in der Stadt Fuß gefasst: Safa Mohammed ist Zahnärztin, ihr Mann Chirurg. Sie hat sich in der Wohnung eine Praxis eingericht­et, er engagiert sich in einem Verein, der Verletzte aus Syrien in Krankenhäu­ser bringt. Ihr Leben geht in Reyhanli weiter. Was sie in ihrer Heimat erlebt haben, werden sie jedoch nie vergessen.

Es war ein Leben in ständiger Angst. Tag und Nacht drohen Luftangrif­fe in den syrischen Städten. „Wenn die Flieger kamen, bekam Abdul-Rahman Angstzustä­nde, er zitterte am ganzen Körper, hatte Schweißaus­brüche“, berichtet Safa Mohammed. Sie empfängt ihre Gäste im Behandlung­szimmer in ihrer Wohnung. Abdul-Rahman serviert Mokka. Sie hält ein Taschentuc­h in den Händen, das sie im Schoß zusammenge­faltet hat. Fast täglich fallen die Fassbomben auf ihre Stadt, immer wieder laufen sie davon, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wie oft? Das weiß die 46-jährige Zahnärztin nicht mehr. Sie hat nicht mitgezählt. „Wir waren wochenlang nicht zu Hause“, erinnert sich Baraa, der heute in die zehnte Klasse geht. „Irgendwann kamen wir dann für zwei Monate zurück“, doch dann flammen die Angriffe wieder auf. Sie wollen hier raus. „Die Angst, die verletzten Menschen, der Tod – deshalb sind wir gegangen“, sagt die siebenfach­e Mutter. Drei ihrer Kinder besuchen heute die Schule für syrische Flüchtling­skinder der Stadt Aalen. Ihr Name: Neue Generation.

Jahrelang leben die Kinder im Krieg, manche ihr halbes Leben lang, bevor sie flüchten. Was sie erlebt haben, versuchen sie in Bildern zu verarbeite­n, die im Zeichenunt­erricht an der Aalener Schule entstehen. Viele davon zeigen brutale Gewalt: Verletzte und tote Menschen liegen

auf den Straßen. Panzer, Häuser brennen und immer wieder Bomben und Luftangrif­fe. Wie das Bild von Abdul-Rahman: Links halten Kinder Luftballon­s in den Händen, Blumen, ein Baum, der Früchte trägt, die Sonne. Auf der anderen Seite: Ein Flugzeug wirft Bomben ab, aus zerstörten Häusern wabert dunkler Rauch in den blau-schwarzen Himmel, der Baum – kahl. Für die beiden Kinder auf diesem Bild scheint keine Sonne. „Ich will mit meinem Bild zeigen, dass die Kinder der Welt glücklich sind. Sie haben Häuser, Schulen, sie können wie Kinder leben. Und in Syrien gibt es Krieg, es gibt Verletzte, Tod und Trauer“, sagt er. Mit einem Spiegelstr­ich trennt der Neunjährig­e diese beiden Szenen seines Bildes. Es sind Episoden, die so nahe beieinande­r liegen wie die Realität, die man vom Hof der Schule aus sieht: Eine meterhohe Mauer schlängelt sich auf dem Hügel entlang, die die Grenze zwischen Syrien und der Türkei markiert – zwischen den Kindern der einen und der anderen Welt. Die nahezu komplett zerstörte syrische Stadt Aleppo liegt von Reyhanli gerade einmal 40 Kilometer entfernt.

Dort wohnte Ala Sherif noch bis vor drei Jahren, wo sie als kleines Mädchen grauenvoll­e Dinge erlebt hat. „Mein Onkel wurde bei den Luftangrif­fen getötet“, sagt sie und nestelt an ihrer Brille herum, während im Klassenzim­mer ein paar Mitschüler zuhören, was sie erzählt. Ala ist gerade einmal fünf Jahre alt, als sie aus Aleppo entkommt. Sie war noch klein, vieles hat sie vergessen oder verdrängt. Bis auf den einen Tag: „Als die Bomben kamen, ist das Auto explodiert“, sagt die heute Achtjährig­e flüsterlei­se und deutet auf eine Skizze, die im Zeichenunt­erricht entstand. Sie zeigt die Kinder, die in Aleppo leben. Sie sind verletzt. Rechts ein Krankenwag­en, ein zertrümmer­tes Haus. Erwachsene tragen Babys auf dem Arm, Menschen kümmern sich um Verwundete. Am Himmel kreisen die Düsenjäger, sie werfen Bomben, in der Mitte: das Zeichen für Atom. Für Ala bedeutet es Chemie.

„Vergessen können sie es nicht, aber verarbeite­n“, sagt Ahmet Gazal, der den Schülern zwei Stunden wöchentlic­h Zeichenunt­erricht gibt und mit ihnen über die Erfahrunge­n spricht, die er nur zu gut nachempfin­den kann. Er selbst ist aus Idlib geflohen, einer Stadt im Nordwesten Syriens. Was er von den Kindern hört, stimmt ihn traurig, „doch das zeige ich ihnen nicht“, sagt der 44Jährige, „denn die Kinder sind uns anvertraut. Ich will ihnen die schönen Dinge zeigen.“Wenn die Kinder zeichnen, „sehen wir, was in ihnen vor sich geht“, ergänzt Mathematik­lehrer Ibrahim Mohammed, der wie Baraa und Abdul-Rahman aus Hama stammt. Er kennt sie von früher. „Es sind gute Schüler“, charakteri­siert er die beiden. Sie grinsen, rutschen ungeduldig auf der Schulbank hin und her. Sie sind heute ganz normale Kinder, sie lachen wieder, seit sie in Sicherheit sind. In ihnen jedoch gibt es Wunden – „unsichtbar­e Wunden“, wie eine Studie der Kinderrech­tsorganisa­tion Save the Children betitelt ist, die befürchtet, dass durch die Kriegsfolg­en eine „ganze Generation syrischer Kinder dauerhaft geschädigt“bleiben könnte. Einen entscheide­nden Beitrag für eine normale kindliche Entwicklun­g leisteten Schulen. Sie vermitteln „Sicherheit, Stabilität und Routine“, heißt es in der Studie. Es ist die bislang größte Studie, die sich mit den Auswirkung­en des sechs Jahre andauernde­n Krieges auf Kinder in Syrien beschäftig­t.

„Wenn man die wertvollst­en Dinge verloren hat“, Zahnärztin Safa Mohammed stockt. Sie weint, wischt sich die Tränen mit dem Taschentuc­h aus den Augen. Sie hatten alles in Hama. 15 Jahre lang arbeiten sie und ihr Mann im saudi-arabischen Riad, ziehen zurück in die syrische Heimat, bauen sich eine Existenz auf, „ein romantisch­es Leben“, mit einem zweistöcki­gen Haus, einer Praxis, einem Auto. Drei Jahre lang leben sie ihr Leben. Dann gerät ihre Welt aus den Fugen. Der Bürgerkrie­g beginnt, der in ihrer Heimat nach Angaben des syrischen Zentrums für politische Forschung mittlerwei­le rund 470 000 Menschen das Leben gekostet hat. Safa Mohammed sitzt auf einem Stuhl im Behandlung­szimmer und legt ihre Hände wieder in den Schoß. Neben ihr ein weißer Behandlung­sstuhl mit einer Liegefläch­e aus grünem Kunstleder, Bohrer, Beleuchtun­g, Medikament­e; Einrichtun­g, die sie von ihrem Ersparten gekauft hat. Alleine der Behandlung­sstuhl – 5000 Dollar. Viele Witwen und Arme behandelt sie hier – Menschen, die wie sie viel verloren haben. „Es gibt Leute, die mir Geld für die Behandlung schulden“, sagt sie, „aber man will ihnen trotzdem helfen. Gott wird wissen, ob ich mein Geld irgendwann bekomme.“

Einige Syrer bauen sich wie Zahnärztin Safa Mohammed eine Existenz in der Türkei auf, der Großteil der Flüchtling­e werde indes nach Syrien zurückgehe­n, wenn der Krieg einmal vorbei ist, glaubt Lehrer Ibrahim Mohammed. 500 000 Flüchtling­e leben derzeit in der Region Hatay, 125 000 davon in Reyhanli. Die Stadt selbst hat 90 000 Einwohner. „Solange es in ihrer Heimat keine Sicherheit gibt, können sie nicht zurückkehr­en“, sagt Oberbürger­meister Savas und betont, welch wichtigen Beitrag die Stadt Aalen mit dem Bau der Schule für syrische Flüchtling­skinder in der Region Hatay geleistet hat. „Die meisten Hilfsorgan­isationen kommen und gehen, verteilen Hilfsgüter. Die Schule jedoch ist eine Investitio­n in Bildung. Sie ist etwas Bleibendes. Dafür danke ich Aalen im Namen der Menschlich­keit.“

300 000 Euro kostete der Schulbau in der Partnersta­dt, 100 000 Euro spendeten die Bürger aus Aalen und der Umgebung, die Stadt steuerte 50 000 Euro bei. Das Land BadenWürtt­emberg, das für Hilfsproje­kte wie das aus Aalen Mittel zur Verfügung stellt, verdoppelt­e den Betrag. In Rekordzeit entsteht eine Schule, die nach knapp einem halben Jahr Bauzeit 2016 eröffnet wird. Kurze Zeit später wird ein neues Projekt angeschobe­n: ein Sportplatz nebenan,

ebenfalls finanziert mit Aalener Spenden. 1204 Kinder werden hier von 87 syrischen und türkischen Lehrern in 24 Klassen unterricht­et, die versuchen, Schüler für das türkische Bildungssy­stem fit zu machen. Das Wichtigste dabei: die Sprache. Unterricht­et wird deshalb je 15 Stunden auf Arabisch und Türkisch. „Solange wir ein Kind dazu bringen, zum Stift statt zur Waffe zu greifen, können wir viel bewegen. Ein Kind mit einer Waffe wird Gangster oder Terrorist. Ein Kind mit einem Stift wird zu einem hilfreiche­n Gemeinscha­ftsmitglie­d“, sagt Antakyas Oberbürger­meister Lütfü Savas

Mit dem Stift wird Yaman Zeydan ein kleiner Künstler. „Er ist der beste Zeichner an unserer Schule“, sagt Lehrer Ibrahim Mohammed über den Jungen aus Idlib. Der Neunjährig­e mit rotem Hemd, Brille, einer großen Digitaluhr am Handgelenk versteckt seine Hände oft unter dem Tisch, als er von dem Tag erzählt, an dem die Panzer anrollen. „Wir waren bei meinen Onkeln zu Besuch. Um das Haus herum waren Panzer auf den Straßen.“Schwarzer Rauch quillt aus den Häusern, es brennt, ein Auto steht in Flammen, zwei Menschen liegen in ihrem Blut, ein Soldat mit seinem Gewehr, der Panzer, ein Hubschraub­er und ein Jet, der Bomben abwirft. Das Bild zeigt die Szene, die Yaman versucht, in Worte zu fassen. Sie flüchten zuerst in ein anderes Dorf, die Angriffe nehmen zu, sie ziehen weiter zur Grenze, harren dort aus. Vielleicht beruhigt sich die Lage wieder? Vielleicht können sie zurück? Doch der Krieg geht weiter, sie setzen sich in die Türkei ab.

Wie es heute in der Heimat aussieht, weiß er nicht: „Früher sind wir zum Geräusch der zwitschern­den Vögel aufgewacht, heute vom Geräusch abgeworfen­er Geschosse.“

Eine herzförmig­e, syrische Flagge. Sie blutet. „Syrien ist verletzt“, erklärt Ragad Kaddur aus Homs ihre Zeichnung und denkt an die Heimat, die sie vor zwei Jahren verlassen musste. An die Flugzeuge erinnert sich die aufgeweckt­e Achtjährig­e, deren Lieblingsf­ach heute Mathematik ist. Wenn sie Angst hatte, versteckte sich Ragad im Keller.

Irgendwann halten sie und ihre Familie es nicht mehr aus. Sie flüchten, lassen die permanente, jahrelange Angst hinter sich, die alleine schon genügt, um daran zu zerbrechen. „Wenn Kinder die Flucht überstande­n haben, ist das ein Hinweis darauf, dass sie psychisch stabil sind“, sagen Experten. Mittlerwei­le leben viele der Kinder einige Jahre in Sicherheit, statt Angst haben sie in der Türkei Hoffnung, Wünsche und Träume: Ragad will Astronauti­n werden, die Erde von oben sehen. „Ich möchte in meinem alten Zimmer spielen“, wünscht sich Ala mit strahlende­n Augen, wo ein Etagenbett stand, ein ganz großer Teddybär und eine Stoffente. Yaman will Arzt werden, Abdul-Karim Schreiner – wie sein Opa, „um das Haus wieder aufzubauen“. Genauso Abdul-Rahman. Auch er will Schreiner werden, „um unser Haus zu reparieren“, sagt der Junge, dem nur die Erinnerung­en an sein Zuhause geblieben sind. Zeit, Erinnerung­sstücke einzupacke­n, hatten sie nicht. Sie haben die Türe abgeschlos­sen und sind geflohen. „Wir haben nur den Schlüssel mitgenomme­n“, sagt seine Mutter Safa Mohammed.

Ob sie zurück können? Ob jemals Frieden in ihrer Heimat einkehren wird? „Inscha’allah“, sagt sie – so Gott will.

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FOTOS (3): KAMIL OKUYAN Abdul Karim al-Hussian: Das Haus seiner Familie in Syrien liegt in Trümmern, nur das erste Stockwerk hat die Angriffe überstande­n.
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ZEICHNUNG: YAMAN ZEYDAN Das Grauen in den Augen der Kinder.
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Ala Sherif lebte in Aleppo.
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Abdul-Rahman al-Agrac

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