Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Wenn aus Leid große Kunst geboren wird
Das Philharmonische Orchester widmet dem russischen Romantiker Peter Tschaikowski einen ganzen Abend
ULM - Leid wird von Menschen sehr unterschiedlich verarbeitet. Nachdem Peter Tschaikowskis Ehe gescheitert war, zog er sich an den Genfer See zurück. Anstatt aber in Selbstmitleid zu versinken, schrieb er rauschhaft binnen vier Wochen sein Violinkonzert D-Dur – das seinerzeit den gefürchteten Musikkritiker Eduard Hanslick zu der Äußerung brachte, dass dieses Stück förmlich „stinke“. Gewiss hatte Hanslick nicht im Sinne, dem Konzert zu dem Klassikerstatus zu verhelfen, den es heute hat.
Es erfüllt alles, was man sich von einem Werk der russischen Spätromantik erwartet, es ist ein auf der Klaviatur der Emotionen alle Facetten auffahrender Koloss, dessen Melodien Blaupause für pathetische Filmmusik und unzählige Nachahmer wurde. Dass man dieses Konzert immer noch – oder gerade deshalb – genießen kann, liegt im CCU auch an der großartigen Umsetzung durch den Solisten Tamás Füzesi und das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm, die sich mit einer fabelhaften Mischung aus Pathos und Zurückhaltung, Detailfreude und Kontrastschärfe an diesen Mythos machen und ihn als flotten Musenritt kredenzen.
Füzesis Spiel ist wie immer voller Seele und Klarheit, gibt sich im temporeichen Finale keine Blöße und begeistert gerade durch das glänzende Gestalten jener Details, die man bei einem derart bekannten Werk als gegeben hinnimmt. Wie er etwa den Mittelsatz mit der ikonisch-traurigen Melodie formuliert, ohne dabei der Versuchung der Süßlichkeit zu erliegen – große Klasse. Nicht minder gelungen die Steigerung des Kopfsatzes, dessen enormes Atemholen Orchester und Solist als gemeinsamen Spannungsbogen vorzüglich gestalteten. Ein fabelhafter Abschluss eines an Reizen und Melodien so gar nicht armen zweiten Philharmonischen Konzertes, das Generalmusikdirektor Timo Handschuh ganz Tschaikowski gewidmet hatte, dessen Todestag sich 2018 zum 125. Mal jährt.
Der Abend hatte mit der „Briefszene“aus der Oper „Eugen Onegin“ schon höchst zufriedenstellend begonnen. Sopranistin Rebecca von Lipinski agierte schon in der vergangenen Spielzeit an der Oper Stuttgart unter Handschuhs Dirigat, das Wiedersehen und -hören in Ulm ergab eine berührende und feinsinnig musizierte Eröffnung des Konzertes. Von Lipinski Stimme ist herrlich klar, emotional und lyrisch, aber niemals den Gefühlsbogen überspannend.
Das verträumte Stück eröffnete mit der wunderbaren Kate Allen als Filipjewna, deren glänzenden Mezzosopran man gerne auch etwas länger gehört hätte an diesem Abend. Aber da stand noch die höchst beliebte und das ihr zugrunde liegende Ballett vielfach überholende „Nussknacker-Suite“ auf dem Programm. Die angekündigten 16 Minuten reichten nicht aus für die akkurate, sinnliche, vereinzelt auch etwas schleppende Umsetzung dieser Suite. Die einzelnen Sätze erklangen mit großer Wirkung, die Welt von Zuckerfee und Mäusekönig erweist sich auch fast 130 Jahre nach der Premiere als fesselnd.
Man wundert sich, dass diese Musik bei ihrer Premiere erst einmal durchfiel – und dass auch ihr ein tragisches Ereignis voranging: der Tod von Tschaikowskis geliebte Schwester Alexandra. Ob alle große Kunst auf Leid basiert? Beim Zuhörer jedenfalls kam purer Genuss an.
Der Applaus war frenetisch.