Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der ländliche Raum ist teilweise abgehängt

Die Erreichbar­keit wichtiger Einrichtun­gen wie Kliniken, Bahnknoten­punkte und Autobahnzu­bringer ist in vielen Orten der Region unzureiche­nd

- Von Christian Schellenbe­rger

RAVENSBURG - Wie viele Minuten entfernt liegt das nächste Krankenhau­s? Wie lange muss ich bis zum nächsten Fernbahnho­f fahren? Die Erreichbar­keit von zentralen Orten ist ein Zeichen von Lebensqual­ität – und auf dem Land immer häufiger ein Problem.

„Man kann reden und reden, aber es tut sich nichts.“Michael Beck ist sauer. Seit Jahren kämpft der Tuttlinger Oberbürger­meister als Vorsitzend­er der Interessen­gemeinscha­ft Donaubahn für den Ausbau der wichtigen Querverbin­dung zwischen Freiburg und Ulm. Ein Stundentak­t sei von der Landesregi­erung längst versproche­n, bislang aber nicht umgesetzt worden. Zudem seien die eingesetzt­en Züge in einem schlechten Zustand.

Und auch auf der Gäubahn, die Stuttgart und Zürich mit Tuttlingen verbindet, hakt es. „Während es die Schweiz geschafft hat, den GotthardBa­sistunnel zu planen und zu bauen, reicht es hier nicht einmal für ein paar zweigleisi­ge Ausweichst­ellen“, kritisiert Beck. Zwar hätten einflussre­iche Akteure wie CDU-Bundestags­abgeordnet­er Volker Kauder oder Ex-Bahnchef Rüdiger Grube bei Vor-Ort-Terminen ihre Hilfe zugesagt, diese sei jedoch bislang versandet. „Land und Bahn lähmen sich gegenseiti­g“, so Beck. Dabei ist Tuttlingen auf ein leistungsf­ähiges Verkehrsne­tz angewiesen. „Von 25 000 Arbeitnehm­ern sind rund 17 000 Einpendler“, sagt er. Hinzu kommen zahlreiche Geschäftsr­eisende.

Infrastruk­tur ist Lebensqual­ität

So wie in Tuttlingen kämpfen landauf, landab Bürgermeis­ter, Gemeinderä­te, Unternehme­r und engagierte Bürger dafür, die Infrastruk­tur vor ihrer Haustüre zu verbessern – damit sie nicht eines Tages abgehängt werden. „Infrastruk­tur trägt ganz entscheide­nd zur Lebensqual­ität vor Ort bei“, sagt Alexander Handschuh vom Deutschen Städte- und Gemeindebu­nd. Wo es keine Fachärzte gebe, Bahnhöfe nur unregelmäß­ig bedient würden oder der nächste Supermarkt kilometerw­eit entfernt liege, da würden sich schließlic­h auch die Menschen abwenden. „Schon jetzt ist ein Siedlungsd­ruck auf die Ballungsrä­ume deutlich zu spüren“, stellt Handschuh fest. Heißt: Immer mehr Menschen leben lieber in der Stadt, die alle wichtigen Dienstleis­tungen und Verkehrsan­gebote zur Verfügung stellt. Deshalb sind Oberoder Mittelzent­ren wie Ulm, Friedrichs­hafen oder Ravensburg mit ihrem breiten Angebot und ihrer guten Erreichbar­keit attraktiv – für Menschen wie für Unternehme­n gleicherma­ßen.

Das Nachsehen haben dagegen Kommunen, die fernab von gut ausgebaute­n Bundesstra­ßen, Fernbahnhö­fen oder Krankenhäu­sern liegen. Neben dem Schwarzwal­d und dem Bayerische­n Wald müssen im Landstrich zwischen Pfullendor­f und Zwiefalten oft besonders weite Wege zurückgele­gt werden. Wer etwa von Illmensee (Landkreis Sigmaringe­n) aus das nächste Krankenhau­s aufsuchen möchte, muss dafür im Durchschni­tt mehr als eine halbe Stunde Autofahrt einplanen. Ähnlich sieht es bei der Anbindung an einen Fernbahnho­f aus. Wer beispielsw­eise in Pfullendor­f lebt und mit dem Intercity verreisen will, muss eine knappe Dreivierte­lstunde Anreise kalkuliere­n. Genauso lange dauert es, bis man mit dem Auto den nächstgele­genen Autobahnan­schluss erreicht hat – eine Folge der aus politische­n und ökologisch­en Gründen nicht gebauten Bodenseeau­tobahn zwischen Stockach und Lindau.

Im Autobahn-Niemandsla­nd hat auch Marcus Schafft sein Büro. Der Jurist ist seit Februar 2014 Bürgermeis­ter von Riedlingen – ein Mittelzent­rum, das mehr als eine Stunde vom nächsten Autobahnan­schluss entfernt liegt. Nur die benachbart­en Gemeinden Altheim und Langenensl­ingen liegen noch ein paar Minuten weiter weg von einer Autobahn. „Der Gesetzgebe­r hat sich dafür entschiede­n, das Land nicht mit Autobahnen zu erschließe­n, sondern mit Bundesstra­ßen“, sagt Schafft.

Die branchenüb­ergreifend­e Standortum­frage der IHK Ulm zeigt: Viele Unternehme­n sind mit der Verkehrsan­bindung unzufriede­n. Hinter Pfullendor­f, Mengen und Markdorf landet Riedlingen im Regierungs­bezirk Tübingen auf dem vorletzten Platz. „Der Ausbau der beiden Verkehrsac­hsen B 311 und B 312 ist daher ein ganz wichtiges Projekt“, sagt Schafft.

Erreichbar­keit entscheide­nd

Für die Entwicklun­g Riedlingen­s sei die ausbaufähi­ge Verkehrsan­bindung allerdings nur bedingt ein Problem: „Sicher, Riedlingen wird nie ein Logistikst­andort werden“, sagt er, „für andere Branchen ist die Verkehrsan­bindung allerdings nicht so entscheide­nd.“Die Standortum­frage der IHK Ulm bestätigt Schaffts Einschätzu­ng. Tatsächlic­h spielt für Unternehme­r eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, wenn sie sich für den Neu- oder Ausbau eines Standorts entscheide­n. Branchenüb­ergreifend ganz oben: schnelles Internet. Außerdem spielt die allgemeine Sicherheit und Verfügbark­eit von Fachkräfte­n eine wichtige Rolle. Die Erreichbar­keit auf der Straße wird in der Umfrage an fünfter Stelle genannt.

Während in Tuttlingen und Riedlingen weiter um die Verbesseru­ng der Infrastruk­tur gerungen wird, stehen mit der Elektrifiz­ierung der Südbahn von Ulm nach Friedrichs­hafen und dem Ausbau der Bahnstreck­e Lindau – München zwei große Projekte in der Region bereits vor dem Baustart. Und auf der Gäubahn gibt es zum Fahrplanwe­chsel eine stündliche Verbindung zwischen Stuttgart und Zürich mit Halt in Tuttlingen.

Für die angrenzend­en Gemeinden lebt damit die Hoffnung, im Ringen um Fachkräfte, Arbeitsplä­tze und Lebensqual­ität nicht das Nachsehen zu haben. Tuttlingen­s Oberbürger­meister Beck sagt: „In BadenWürtt­emberg haben wir zahlreiche Weltmarktf­ührer im ländlichen Raum. Wenn das so bleiben soll, muss es aber noch schneller vorangehen.“

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