Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Kampf gegen den HIV-Tod
Vor 30 Jahren starb in Ulm jeden Monat ein Betroffener - Inzwischen hat die Medizin Aids gut im Griff
ULM - Michael Diederich weiß noch genau, wie es war. Er war 17, als er an Aids erkrankte. Die Medizin war nicht so weit wie heute. Zwei Jahre später ging es ihm gesundheitlich sehr schlecht. „Ich habe jederzeit damit gerechnet, dass ich sterben könnte“, erinnert er sich. Heute ist Diederich 41. Seit vier Jahren beantwortet er Fragen bei Präventionsveranstaltungen. „Endlich kann ich der AidsHilfe etwas zurückgeben“, sagt er. In diesem Jahr feiert die Institution ihr 30-jähriges Bestehen. Bei Krankheit, Prävention und Behandlung und bei der Arbeit der Helfer hat sich viel verändert.
Etwa 80 Mal im Jahr organisiert die Aids-Hilfe Ulm/Neu-Ulm/AlbDonau Vorträge, die meist junge Leute auf HI-Virus und Aids aufmerksam machen soll. Die Krankheit ist aus dem Bewusstsein vieler verschwunden.
Noch vor 20 Jahren war das anders, auch wegen der Rock-Ikone Freddie Mercury, die an den Folgen der Krankheit starb. Heute kämpfen Mediziner und Aidshelfer mit einem Dilemma. Die Lebenserkrankung der Infizierten ist etwa so hoch wie die gesunder Menschen.
Doch das Wissen über den medizinischen Stand ist nach der Erfahrung der Ulmer Helfer bei vielen schwach ausgeprägt. Vorurteile bleiben, obwohl das Virus mit der richtigen Therapie nicht einmal bei ungeschütztem Sex übertragen wird, wie Dr. Georg Härter erklärt. Der Internist behandelt Aids-Patienten in Ulm. „Das Problem sind die Patienten, die nichts von ihrer Infektion wissen“, sagt er.
Das liege manchmal daran, dass sich Patienten nicht testen lassen und manchmal daran, dass Ärzte die Symptome nicht richtig einordnen, weil sie nicht auf die Idee kommen, dass ein Patient an Aids erkrankt sein könnte. Zum Beispiel bei einem Handwerker von der Alb, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, seine Bisexualität aber heimlich beim Sex mit Männern auslebt.
Härter und die Sozialarbeiter der Aids-Hilfe kennen auch andere Probleme mit Ärzten. Erst kürzlich habe ein Gynäkologe einer HIV-positiven Schwangeren zu einer Abtreibung geraten, obwohl das Übertragungsrisiko für das Kind bei lediglich etwa einem Prozent liege. Doch insgesamt bessere sich der Umgang der Mediziner mit Aids-Patienten, wie Härter beobachtet.
Die Diskriminierung bleibt, etwa am Arbeitsplatz, wo Kollegen einen HIV-Positiven mobben. Zusätzliche Brisanz besteht bei Flüchtlingen. Viele von ihnen wissen über die Krankheit nicht Bescheid und grenzen HIV-Positive aus. Wer betroffen ist, kann das in den Gemeinschaftsunterkünften kaum verbergen. Wie lassen sich tägliche Tabletten und häufige Arztbesuche in einem Mehrbettzimmer verheimlichen? Um Ängste und Vorurteile abzubauen, besuchen die Helfer inzwischen auch diese Unterkünfte.
Diskriminierung hat Michael Diederich nicht erlebt, die Angst kennt er. „Ich war ein guter Schauspieler“, sagt er. Lange habe er die Krankheit vor seinen Freunden versteckt gehalten. Irgendwann öffnete er sich – und erlebt großen Rückhalt. Diederich ist Bluter, in den 80er Jahren steckte er sich durch ein verunreinigtes Medikament an. Als Kind besuchte er die Selbsthilfegruppe der Aids-Hilfe, noch bevor er wirklich verstand, was ihm da eigentlich passiert war. Wer damals die Räume der Aids-Hilfe betrat, wusste nicht, ob noch alle am Leben waren. „Als wir angefangen haben, waren wir eigentlich jeden Monat auf einer Beerdigung“, erinnert sich Waltraud Schwendele. Die Sozialarbeiterin arbeitet seit Beginn dort.
Im vergangenen Jahr zählte die Aids-Hilfe 113 Einzelfälle, meistens Betroffene, ohne Beratungen per Mail oder am Telefon. Doch der Aids-Hilfe fällt es schwerer, in Kontakt mit Angehörigen von Risikogruppen zu treten. Schwulentreffs verschwinden, zum Beispiel am Rosengarten, wo ein öffentliches WC geschlossen wurde, oder an einem Autobahnparkplatz, wo ein neuer Zaun gezogen wurde. Auch an solchen Orten haben die Sozialarbeiten Aufklärung betrieben und Kondome verteilt. Inzwischen verlagern sich Verabredungen von Homosexuellen mehr und mehr ins Internet.
Risiko wird nicht ernst genommen
Die Präventionsarbeit bleibt. Michael Diederich berichtet weiter über seine Krankheit. Dass die HI-Viruslast in seinem Blut inzwischen unter der Nachweisgrenze liegt, hilft, Ängste abzubauen. Doch Diederich sieht das Risiko, dass Aids wegen solcher Berichte nicht ernst genug genommen werden könnte. Das Robert-Koch-Institut meldet: 2016 infizierten sich etwa 3100 Menschen in Deutschland mit HIV.