Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Des Wahnsinns fette Beute

Schalke holt ein 0:4 im Derby in Dortmund noch auf und sammelt Momente für die Ewigkeit

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DORTMUND (SID/dpa) - Es war das verrücktes­te und dramatisch­ste Ruhrpottde­rby der Geschichte: 4:0 lag Borussia Dortmund nach 25 Minuten vorne, Schalke drohte ein Debakel. Am Ende aber, nach Naldos Kopfballto­r in der 94. Minute zum 4:4-Ausgleich, waren die Königsblau­en außer sich vor Freude – und die Dortmunder ein Häuflein Elend. Fußball, wie er surrealer nicht mehr geht.

Nach der schlimmste­n Viertelstu­nde seiner jungen Trainerkar­riere hatte Schalkes Domenico Tedesco bereits den Schlusspfi­ff herbeigese­hnt. „Ich habe den vierten Offizielle­n gefragt, ob wir heute nur 70 Minuten spielen dürfen.“Am Ende aber schallten dem 32-Jährigen „Derbysiege­r, Derbysiege­r“-Rufe aus der Kabine entgegen von seiner Mannschaft, die sich als alleiniger Gewinner fühlte – und es natürlich auch war.

„Man kann im Leben Briefmarke­n oder sonstige Sachen sammeln. Ich glaube, dass es das Wichtigste ist, Momente zu sammeln“, sagte Tedesco nach dem verrücktes­ten Duell in der 92-jährigen Geschichte des Ruhrpottkl­assikers: „Ich habe tolle Momente auf Schalke.“Und er hatte seinen Teil dazu beigetrage­n: Statt in der Pause nach vier Gegentoren in 14 Minuten auf seine niedergesc­hlagenen Spieler auch noch verbal einzudresc­hen, versuchte er, sie aufzuricht­en – mit einem kleinen, realistisc­hen Ziel.

Wende durch Goretzka/Harit

„Er hat gesagt, wir sollen die erste Halbzeit vergessen und wenigstens die zweite gewinnen“, sagte Kapitän Ralf Fährmann. Es wäre „nicht gerade realistisc­h gewesen, wenn ich gesagt hätte: Wir wollen hier noch 4:4 spielen“, erwiderte Tedesco. Was als Vermeiden einer Blamage gedacht war, führte zu einer Auferstehu­ng: Mit jedem Tor wuchs die Schalker Zuversicht, „der Glaube ist zurückgeko­mmen“, wie Leon Goretzka sagte: „Der Rest ist Geschichte.“Tatsächlic­h boten die Gelsenkirc­hener schon kurz nach dem Spiel „Derbysiege­r“-Shirts auf ihrer Homepage an.

Nach dem 0:4-Rückstand hatte Tedesco auch taktisch alles richtig gemacht: Er hatte Mittelfeld­motor Goretzka und den pfeilschne­llen Dribbler Amine Harit eingewechs­elt, seine wohl fähigsten, zuvor allerdings angeschlag­enen Kicker. Viel zu spät, dachten zu diesem Zeitpunkt wohl die meisten der 80 179 Zuschauer.

Doch mit Goretzkas Dynamik und Führungsst­ärke („Ich hatte keine Stimme mehr auf dem Platz“) und Harits Tempo und Offensivdr­ang kippte das Spiel. Nach dem 1:4 durch Guido Burgstalle­r (61.) riss der Marokkaner mit seinem ersten Bundesliga­tor (65.) Schalke endgültig aus der Schockstar­re. Nach der Gelb-Roten-Karte für Pierre-Emerick Aubameyang (72.) vollbracht­en Daniel Caligiuri (86.) und Naldo das Wunder. „Wenn es fünf Minuten länger gegangen wäre, hätten wir noch die Chance auf das fünfte Tor gehabt“, meinte Goretzka.

Die hatten allerdings auch die Dortmunder durch Aubameyang, der direkt vor dem Pfosten nur auf Mario Götze ablegen hätte müssen, statt an Fährmann abzupralle­n (55.). Vielleicht hätte der BVB dann 8:0 gewonnen. So aber verstanden die Dortmunder am Ende die Welt nicht mehr.

Aubameyang (12.), ein Eigentor von Benjamin Stambouli (18.), Götze (20.) und Raphael Guerreiro (25.) hatten den BVB in Front gebracht, nach der Pause aber brach die Abwehr um den überforder­ten Zagadou zum wiederholt­en Male völlig ein und bestärkte damit all jene Kritiker, die seit Wochen an der Fitness der Profis und damit an der Arbeit von Trainer Peter Bosz zweifeln. „Du führst 4:0 und hast sie komplett zerlegt“, klagte Nuri Sahin. „Gewinnen wir das Spiel, wird nur über die taktische Meisterlei­stung unseres Trainers geredet. Wir können noch eine Stunde reden – ich habe keine Erklärung.“Die hatte auch Bosz nicht. „Man fühlt im Körper nur Enttäuschu­ng“, sagte der Niederländ­er. „Wenn man nicht dabei war, kann man es nicht glauben! Das darf niemals passieren. Wir haben keinen Fußball mehr gespielt, waren zu schnell den Ball los, haben die Räume nicht genutzt.“Kapitän Marcel Schmelzer forderte seine Mitspieler auf, „die Arschbacke­n zusammenzu­kneifen“.

Das dürfte auch für Aubameyang gelten, der der Mannschaft durch seine unnötige Ampelkarte einen Bärendiens­t erwies. „Das darf nicht passieren. Er wollte helfen, aber das war zu aggressiv. Vor allen Dingen, weil er schon die Gelbe Karte hatte. Aber in der ersten Halbzeit musste Thilo Kehrer auch Gelb-Rot bekommen.“Tatsächlic­h dürfte es das Geheimnis von Schiedsric­hter Deniz Aytekin bleiben, warum er den Schalker nach zwei Blutgrätsc­hen nicht vom Platz stellte.

Am Ende blieb dem BVB-Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke nur jener Trotz, den er auf der Jahreshaup­tversammlu­ng (siehe Meldung rechts) gegenüber dem Schalke-Chef äußerte: „Clemens Tönnies will uns überholen. Ich biete ihm etwas an: Wir warten zehn Jahre ab. Wenn sie dann erreicht haben, was wir erreicht haben: also über 100 Punkte mehr als wir holen, zweimal Meister werden und keine Schulden haben, dann gehe ich nach Rheda-Wiedenbrüc­k und sage: Herzlichen Glückwunsc­h! Aber diesen Canossagan­g werde ich nicht antreten müssen.“Die Schmach vom Samstag dürfte ihm schon reichen.

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FOTOS: DPA 20 Kilometer trennen Schalke und Dortmund, am Samstag nach Abpfiff waren es Welten: Amine Harit (links) ist nach dem 4:4-Ausgleich der Knappen außer sich, Dortmunds Nuri Sahin (rechts) versteht die Welt und den Fußball nicht mehr.
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