Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Durch alle Raster gefallen

Tobias Blankenbur­g leidet an einer seltenen Krankheit – und dann lässt noch das soziale System den jungen Mann im Stich

- Von Bettina Buhl

SCHEIDEGG - Lotto gespielt hat er schon öfter. Vielleicht, sagt er sich immer wieder, vielleicht hat er ja genauso viel Glück, wie er Pech gehabt hat. Die Chancen, mit sechs Richtigen samt Zusatzzahl zu gewinnen, stehen eins zu 140 Millionen. Die Chancen, an Langerhans-Zell-Histiozyto­se zu erkranken, ungefähr eins zu zwei Millionen. Beides ziemlich unwahrsche­inlich. Tobias Blankenbur­g aber ist dieser eine unter zwei Millionen jungen Menschen, bei dem die Krankheit ausgebroch­en ist – gutartige, aber aggressive Tumore im Körper, die Knochen und Organe angreifen. Ein Schicksals­schlag, der dem damals 22-Jährigen nicht nur eine Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäu­ser bescherte. Er führte ihn auch von einem Amt ins nächste, ein Irrweg durch Behörden, der zeigt: Das Sozialsyst­em fängt nicht jeden auf.

Es war vor etwas mehr als einem Jahr. Tobias Blankenbur­g, Abitur, abgeschlos­sene Ausbildung, aus Scheidegg im Kreis Lindau, hatte einen Plan fürs Leben. Nach seiner Banklehre wollte er sich zum Barkeeper ausbilden lassen, bevor es weiter an die Uni gehen sollte. Drinks mixen statt Bilanzen prüfen. New York statt Landleben. Und dafür schuftete er. Für einen Trip in die US-Metropole und einen Kurs an einer Barkeepers­chule sollte erst einmal der Geldbeutel gefüllt sein. So jobbte Blankenbur­g an einer Tankstelle unweit seines Wohnorts. Dann nahm alles seinen Lauf.

Ein unerträgli­ches Brennen

„Immer häufiger merkte ich, dass ich unter extremen Schmerzen litt, von der Hüfte an durch das ganze linke Bein“, erzählt der schlanke Mann, streicht mit der linken Hand über die Jeans, den Oberschenk­el entlang. Nicht, um seine Worte zu bestärken. Er kann nicht anders. Jedes Mal, wenn er an dieses Jahr denkt, kommt die Erinnerung an die Schmerzen. Ein Brennen, unerträgli­ch, immer wieder, immer öfter.

Zunächst dachte er an nichts Schlimmes: Er war jung, fit, hatte nie große Beschwerde­n. Vielleicht stand er falsch, vielleicht hatte er sich etwas gezerrt, vermutete er. Doch Schmerzmit­tel halfen nichts. Die Sorge wuchs. Der Hausarzt prüfte zunächst das Naheliegen­de: ein eingeklemm­ter Muskel oder Nerv. Er schickte den Scheidegge­r zur Physiother­apie. „Aber das verschlimm­erte das Ganze noch.“

Noch heute verzieht Blankenbur­g das Gesicht, wenn er an diese Zeit denkt. Seine Augen hinter der schwarzen Brille folgen den Linien der Holzmaseru­ng auf dem Tisch. In Gedanken sitzt er nicht mehr in dem alten Bauernhaus, dessen Decke gerade so hoch ist, dass er aufrecht stehen kann. Er sieht sich wieder auf einer Untersuchu­ngsliege, der Geruch von Desinfekti­onsmittel in der Luft, das Rascheln der Papieraufl­age unter seinem Rücken, das in Rechtecke aufgeteilt­e Licht der Röntgenmas­chine auf seinem Körper. Kurz umklammern seine Finger die Tasse vor ihm. Dann atmet der heute 23-Jährige durch, blickt auf, lächelt entschuldi­gend, erzählt weiter.

Die Schmerzen waren kaum mehr auszuhalte­n. Kaum eine Nacht konnte er durchschla­fen, kaum einen Tag blieb er verschont. Der Hausarzt schickte ihn ins Krankenhau­s. Es folgte ein Röntgenbil­d, ein Diagnoseve­rfahren, ein Facharzt nach dem anderen. „Ich mache den Ärzten keine Vorwürfe. Meine Krankheit ist so selten, dass die Erfahrungs­werte fehlten. Wer dachte schon daran, was da alles rauskommen sollte?“Blankenbur­g ahnte allerdings nicht, was noch folgen würde: unzählige Behördengä­nge, gefühlte tausend Telefonate – neben Klinikbesu­chen, Operation, Bestrahlun­g, Reha.

Sein Ziel aber blieb bestehen, trotz all der Schmerzen. Die Bewerbung zum Barkeeperk­urs war erfolgreic­h, der Flug nach New York gebucht, das Geld für den großen Traum beisammen. Und dann machte Blankenbur­g das, was in der Rückschau viele als großen Fehler bezeichnen: Er kündigte seinen Job an der Tankstelle. „Klar, die Arbeit machte mir Freude. Aber ich hatte doch meinen Plan.“Sein Chef hatte Verständni­s für den Schritt. Blankenbur­g zuckt mit den Schultern: „Es wär mir nie in den Sinn gekommen, mich krankschre­iben zu lassen und weiter angestellt zu bleiben.“

Zwei Wochen vor dem geplanten Trip 2016 zeigte sich, dass daraus nichts wird. Die Schmerzen zu groß, die Schmerzthe­rapie erfolglos. Gleich nach der Kündigung hatte er sich arbeitslos gemeldet. Wie jeder Bundesbürg­er war er dazu verpflicht­et, hielt sich an die Vorschrift­en. Wie jeder junge Mann brauchte er aber auch Geld. Er wohnte zwar noch daheim, die Familie stand ihm zur Seite. „Aber man will doch nicht immer den Eltern auf der Tasche liegen.“Weil er selbst gekündigt hatte, musste Blankenbur­g drei Monate warten, bis er Anspruch auf Arbeitslos­engeld hatte. Doch das kam nie.

Keine Ansprüche

„Tobias Blankenbur­g war krankgesch­rieben. Er stand dem Arbeitsmar­kt nicht zur Verfügung“, erklärt Reinhold Huber, Pressespre­cher des zuständige­n Arbeitsamt­s. Für die Behörde war die Sachlage klar: arbeitsunf­ähig, kein Jahr lang beitragspf­lichtig gearbeitet, kein Anspruch. Im Nachhinein sagt Huber, dass es für Blankenbur­g „alles andere als gut gelaufen ist“. Doch das Amt musste nach den Fakten entscheide­n. Weil Blankenbur­g arbeitsunf­ähig war, schickte man ihn zur Krankenkas­se. „Man sagte mir, dass nicht das Arbeitsamt, sondern die DAK für mich zuständig sei.“

Nur: Um Krankengel­d beziehen zu können, muss man auch berechtigt sein. „Tobias Blankenbur­g war zu dieser Zeit nicht angemeldet“, sagt DAK-Sprecher Stefan Wandel. Der Scheidegge­r hat zwar regulär seine Beiträge gezahlt, als er noch arbeitete. Als er aber kündigte und dann arbeitsunf­ähig wurde, konnte ihn das Arbeitsamt nicht bei der Krankenkas­se melden, weil er nicht als Arbeit suchend galt. Wandel bezeichnet das als eine „Ausnahme, die sehr, sehr selten vorkommt“, als „Lücke“, in die Blankenbur­g fiel.

Weil er jünger als 23 war, konnte er zurück in die Familienve­rsicherung. So waren zumindest die Arztkosten gedeckt. „Er hat eigentlich alles richtig gemacht. Aber als mitversich­ertes Familienmi­tglied hatte er keinen Anspruch auf Krankengel­d“, erklärt DAK-Sprecher Wandel. Der Fall zeige, dass man unverschul­det durch die Raster fallen kann. Alles richtig gemacht? Heute schüttelt Blankenbur­g darüber den Kopf. „Ich habe mich gefragt, was ich falsch gemacht hatte, um nicht einfach das Leben genießen zu können.“Eine glückliche Beziehung oder einen Job haben, einkaufen gehen oder einen Urlaub planen – was für seine Freunde ganz normal war, das konnte er nicht.

Neben all den Untersuchu­ngen und der Krebsthera­pie nahmen die Behördengä­nge für Blankenbur­g kein Ende. Während seine Ersparniss­e für New York schrumpfte­n, konnte er nur noch auf das Jobcenter hoffen, darauf, dass er Hartz IV bekommt. „Sofort wurde mir auch hier mitgeteilt, dass ich keine Hilfe zu erwarten habe“, erzählt er. Keine 25, wohnhaft im Elternhaus: Da müssen die Eltern aufkommen – egal, warum er arbeitslos ist.

An geltendes Recht gebunden

„Die Krankheit spielte hier keine Rolle“, bestätigt Michael Preisendan­z, Leiter des zuständige­n Jobcenters in Lindau. Sosehr das Schicksal des jungen Mannes auch anrühre, das Jobcenter sei an geltendes Recht gebunden. Da Blankenbur­g in einer „Bedarfsgem­einschaft“lebt, wie es im Amtsdeutsc­h heißt, musste das Jobcenter auch das Einkommen aller Personen in dieser Gemeinscha­ft beleuchten. „Wir sind erst zuständig, wenn kein anderer Sozialleis­tungsträge­r zahlen kann“, macht Preisendan­z deutlich. Und da Blankenbur­gs Eltern gut verdienen, sei die Sachlage klar gewesen. Die Krankheit spielte hier keine Rolle, sondern, wer für den jungen Mann aufkommen kann.

Blankenbur­g legt auch heute noch die Stirn in Falten: Für die Behörden zählt nur, was auf Lohnzettel­n und der Habenseite steht, moniert er. Seine Mutter ist Krankensch­wester. Wenn sie nicht im Krankenhau­s Dienst hatte, kümmerte sie sich um ihren kranken Sohn. Der Vater arbeitet im Schichtdie­nst für einen Automobilz­ulieferer. „Dass wir aber noch einen Kredit am Laufen haben und ich seit Monaten auf Hilfe wartete, interessie­rte bei den Ämtern keinen.“Kleine Lebensvers­icherungen der Eltern hätte man bei günstigem Rückkaufsw­ert abstoßen können, riet man der Familie. „Aber das ist die Altersvors­orge meiner Eltern.“Hinzu kam: Immer wieder musste Tobias Blankenbur­g von vorne beginnen, jedes Mal seine Geschichte neu erzählen – um dann an den nächsten Mitarbeite­r, das nächste Amt verwiesen zu werden. Durch die vielen Untersuchu­ngen, die Strahlenth­erapie und den Stress geschwächt, wollte der Scheidegge­r am Ende nur noch eines: gehört werden.

Vom System enttäuscht

„Ich bin ein junger Mann, habe immer alle Sachen zu vollster Zufriedenh­eit erfüllt, meine Ausbildung und mein Abitur mit Belobigung gemeistert“, sagt er. Doch plötzlich musste er zusehen, wie seine Freunde ihr Leben leben, musste seine Eltern um Geld fragen, wenn er ins Kino gehen wollte. „Ich weiß, dass ich noch nicht viel in die Kassen eingezahlt habe, aber habe ich mir das ausgesucht? Wie kann es sein, dass so viel Geld in unserem Land verschwend­et wird, aber einen jungen Mann lässt man einfach sitzen?“

Tobias Blankenbur­g hat gekämpft. Mittlerwei­le sind die Schmerzen weniger geworden. Es scheint, als hätte sich die Krankheit zurückgezo­gen. Nach der Reha hat er wieder angefangen zu arbeiten. Teilzeit. Als Barkeeper. So habe er wenigstens das nächste Mal Anspruch auf finanziell­e Unterstütz­ung, sollte die Krankheit zurückkomm­en. Blankenbur­g will sich nicht unterkrieg­en lassen, er will leben. „Es wird schon alles“, sagt er mit einem Schulterzu­cken. Drei- bis viermal die Woche trainiert er im Fitnessstu­dio, um seine Muskeln wieder aufzubauen. Er trifft sich mit Freunden, hat einen neuen Plan.

Erst einmal habe er mit der ganzen Sache abgeschlos­sen. Freilich, die Tumore könnten wiederkomm­en. „Aber ich bin noch nicht so weit, dass ich mir Gedanken mache, ob ich davor Angst haben soll.“Jetzt wolle er durchstart­en, sagt er. Ironischer­weise hat ihm die Krankheit einen neuen berufliche­n Weg gezeigt. Er will in der Klinik, in der er zur Reha war, ein duales Studium machen. Gesundheit­smanagemen­t, eine Kombinatio­n aus Betriebswi­rtschaftsu­nd Gesundheit­slehre. „Ich bin dankbar, dass ich mich auf meine Familie und meine Freunde stützen konnte“, sagt Blankenbur­g. Auf das Sozialsyst­em will er sich nicht mehr verlassen. Und er überlegt, spaßeshalb­er noch einen Lottoschei­n auszufülle­n. Vielleicht hat er ja doch einmal Glück.

 ?? FOTO: RALF LIENERT ?? Eine schwere Krankheit bescherte Tobias Blankenbur­g aus Scheidegg eine Odyssee durch Kliniken und von einer Behörde zur nächsten.
FOTO: RALF LIENERT Eine schwere Krankheit bescherte Tobias Blankenbur­g aus Scheidegg eine Odyssee durch Kliniken und von einer Behörde zur nächsten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany