Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
„Ich habe mir keine Gedanken gemacht“
Eine 23-Jährige bringt in Mengen heimlich ein Kind zur Welt und überlässt es seinem Schicksal – Nun steht sie wegen Mord vor Gericht
RAVENSBURG - Das Mädchen wiegt 2655 Gramm, als es zur Welt kommt, es misst 50,5 Zentimeter, es strampelt und es schreit – Symptome, die gewöhnlich für jede Mutter und jeden Vater das größte Glück bedeuten, weil sie von der Lebensfähigkeit eines kleinen Wesens zeugen. In diesem Fall versetzen Bewegung und Töne die Mutter jedoch in Panik, kommt das Kind doch auf einem Grünstreifen zwischen Strohballen zur Welt, allein im Licht einer Handytaschenlampe. Die junge Frau hält den Mund des Säuglings zu, damit niemand die Schreie hört, stopft Papier in den Mund, lässt das Neugeborene schließlich in der Dunkelheit liegen. Wo es schon bald erstickt.
Vor Gericht kommen viele Fälle, die einen berühren der Grausamkeit und der Umstände wegen. Manchmal sind darunter auch solche Fälle, die einen ratlos zurücklassen, die sich nur schwer mit der angeklagten Person in Einklang bringen lassen. Die eine bleierne Schwere und ein stummes Staunen unter den Beteiligten und Besuchern im Gerichtssaal auslösen. Genau so ein Prozess begann am Donnerstag vor dem Landgericht Ravensburg, die 23-jährige Frau ist des Mordes an ihrem Säugling angeklagt aus niederen Beweggründen. Diesen Vorwurf, so viel vorab, konnte sie am ersten Prozesstag nicht entkräften.
Tränen und Schluchzen
In den Gerichtssaal kommt eine gepflegte, etwas mollige junge Frau mit einem grauen Kapuzenpulli, grauen Leggins, die dunkelrot gefärbten Haare sind hochgesteckt. Die Fußfesseln, die nur Trippelschritte erlauben, wirken hier deplatziert, mehr nach Pflicht, denn Notwendigkeit. Eine schwarze Brille verleiht dem Gesicht eine gewisse Strenge, das im Laufe ihrer Aussage jedoch immer weicher wird. Die Augen füllen sich zunehmend mit Tränen, laufen rot an, irgendwann ist im Saal nur noch das Schluchzen und Schlucken der Angeklagten zu hören. Die eine Geschichte erzählt, die harmlos beginnt und kaum abenteuerlicher verlaufen könnte.
Geboren in Friedrichshafen, verbringt sie Kindheit und Jugend nach ihren Angaben völlig normal, „es war alles in Ordnung“, auch das Verhältnis zu Eltern und älterer Schwester. Nach der Schule macht sie eine Ausbildung zur staatlich geprüften Wirtschaftsassistentin, sie hat stets gute Noten, arbeitet später als Versicherungskauffrau. Sie nimmt keine Drogen und trinkt Alkohol nur in Maßen. Ein belastendes Erlebnis bleibt ihr aber in Erinnerung: Im Alter von 17 Jahren wird sie ungewollt schwanger, was der damalige Freund allerdings durch einen Schlag auf ihren Bauch jäh beendet wird.
In der Folge hat sie immer wieder Beziehungen, auch von längerer Dauer. Schließlich verliebt sie sich in den 22-jährigen M. aus dem Kreis Konstanz und zieht bei ihm, seiner Mutter und dem Stiefvater ein. Das Paar ist glücklich, beteuert sie – bis die Angeklagte schwanger wird. Was sie erst Monate später bemerkt haben will, als das Kind zu strampeln beginnt. „Da habe ich Panik und Angst bekommen.“Frage des Richters: „Warum?“„Ich weiß es nicht.“Tränen. „Ich habe mir keine Gedanken gemacht.“
Es beginnt ein Versteckspiel, das von außen wie eine tragische Posse wirkt. Wegen des zunehmenden Bauchumfangs wird sie immer wieder auf eine Schwangerschaft angesprochen, von ihrem Partner, von Freunden und Bekannten, der eigenen Familie und auch vom Arbeitgeber – und immer lautet ihre Antwort: „Nein, ich bin nicht schwanger.“Mal sagt sie, sie habe lediglich etwas zugenommen, ein anderes Mal sie habe eine Entzündung. Mit ausladender Kleidung verdeckt sie den Bauch, zeigt sich nicht mehr nackt vor dem Partner. Nur warum?
Aus Sorge, ihr Freund, der noch keine Kinder wollte, würde sie verlassen, aus Sorge um den Arbeitsplatz, gibt sie an, doch die Aussagen bleiben vage, ungenau und unschlüssig. Einmal sagt sie: „Ich hatte Angst mit dem Kind“, um gleich anzufügen: „Ich weiß nicht, wovor ich Angst hatte.“Und immer wieder fällt dieser eine Satz: „Ich habe mir keine Gedanken gemacht.“
Kurzurlaub mit Folgen
Gedankenlos, was passieren könnte, bricht sie auch Ende Mai 2017 zusammen mit ihrem Partner und einem befreundeten Paar zu einem Kurzurlaub an den Wörthersee auf, das Ziel ist eine Tuningveranstaltung, das Quartett fährt mit zwei Autos. „Der Urlaub war sehr gelungen“, sagt sie vor Gericht. Das Babythema konnte sie, wie gehabt, verdrängen – bis zur Rückfahrt.
Erst glaubt die 23-Jährige an Magenkrämpfe, bis die Erkenntnis reift: Die Wehen haben eingesetzt. Die stundenlange Autofahrt wird zum Martyrium. M. bietet seiner Freundin an, sie in ein Krankenhaus zu fahren. Nein, die Schmerzen seien nicht so schlimm. In Mengen-Rulfingen (Kreis Sigmaringen) bittet sie schließlich um einen Pausenstopp. Die beiden Wagen halten an einem Aussiedlerhof, die Angeklagte entfernt sich. Der Freund will sich ihr nähern, doch sie ruft: „Nein, alles gut, ich will allein sein.“
Zwischendurch bittet sie ihn dann doch um Wasser, eine Jogginghose und eine Rolle Haushaltstücher. Dann geht alles ganz schnell, das Kind kommt umgehend zur Welt, die Mutter beißt mit den Zähnen die Nabelschnur durch. Der Säugling strampelt, er schreit, die Mutter hält den Mund zu, einmal, zweimal. Dann faltet sie ein Papiertuch zu einer Art Knebel und führt ihn in den Rachen des Kindes ein, das sie an Ort und Stelle liegen lässt, schutz- und atemlos.
Das viele Blut, erklärt sie den Mitfahrern, komme von einer Zyste, die sie entfernt habe. Zu Hause angelangt, duscht sie und schläft auf dem Sofa ein. Soweit ihre eigene Schilderung. Der Leichnam des Kindes wird drei Tage später neben den Strohballen gefunden.
Ratlosigkeit
Die Ursachen und Hintergründe dieses tödlichen Verhaltens bleiben am ersten Prozesstag ein Rätsel. Der Gedanke, das Kind könnte zu Tode kommen, sei ihr allenfalls kurz in den Kopf gekommen. „Ich wollte nicht, dass es stirbt.“Sie habe große Angst gehabt, wiederholt die 23-Jährige immer wieder. Wovor, könne sie bis heute nicht sagen: „Ich habe mir im letzten halben Jahr viele Gedanken darüber gemacht, aber ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass ich schreckliche Panik hatte.“
Der Staatsanwalt findet später andere Worte, er spricht von „einer gewissen Entsorgungsmentalität“.
Der Prozess ist auf neun Verhandlungstage angesetzt, ein Urteil wird im Januar erwartet. Aufschlussreich dürften die Aussagen des Gutachters werden über Psyche und Schuldfähigkeit der Angeklagten. Als Zeugen sind auch der Lebensgefährte – und inzwischen Verlobte – der Angeklagten geladen sowie das befreundete Paar, das die Polizei auf ihre Spur brachte. Sie alle wollen von der Schwangerschaft und der Geburt nichts mitbekommen haben. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie wegen unterlassener Hilfeleistung, ob Anklage erhoben wird, steht noch nicht fest.
Bevor hierzulande jemand beerdigt wird, braucht es einen Namen. Das Mädchen, das am 24. Mai dieses Jahres in Mengen-Rulfingen kurzzeitig zur Welt kam, 2655 Gramm wog und 50,5 Zentimeter maß, schrie und strampelte, wurde zu Grabe getragen mit dem Namen Julia.