Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

O du armselige!

- Harm Kränkung, Leid, Qual harmlos, ungefährli­ch. ohne Leid unschädlic­h, Tochter Zion, Tochter Zion versühnen? Tochter Zion? Versühnen versöhnen, sühnen

Um das Thema „Kirche und Weihnachte­n“ging es am Mittwochmo­rgen im SWR. Da war die Rede von Mitleid, von Barmherzig­keit, von Nächstenli­ebe, und direkt danach erklang – dazu passend, wie der Moderator meinte – „What Christmas Means to Me“von Stevie Wonder. Was Weihnachte­n für den US-Pop-Sänger bedeutet, hörte sich allerdings ganz anders an: Schneefloc­ken, Klingeling, Kerzenlich­t – und dann Küsse-Tauschen mit seinem Baby unter Mistelzwei­gen. Bei all den derzeitige­n Endlosschl­eifen im Rundfunk mit x-beliebigen X-Mas-Schlagern aus den USA hat man das Gefühl, dass sich niemand mehr die Mühe macht, in solche seichten Texte hineinzuhö­ren! In Anbetracht des nahenden Festes der Liebe brechen wir hier ab …

Allerdings herrscht auch bei Texten unserer deutschen Weihnachts­lieder manchmal Erklärungs­bedarf. „In den Herzen ist’s warm / still schweigt Kummer und Harm“, so heißt es in „Leise rieselt der Schnee“, das der evangelisc­he Pfarrer Eduard Ebel 1895 schrieb, und da stutzen heute viele. Dieses – ein altes Wort für – kennen wir eigentlich nur noch in der Verbindung also und im übertragen­en Sinn Oder man denke an die Anrede aus dem Adventslie­d „Tochter Zion, freue dich“, zu dem Georg Friedrich Händel 1747 die Melodie Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

komponiert­e. Warum Vereinfach­t dargestell­t: Zion war eine Burg auf dem Gebiet Jerusalems. Spätestens als König Salomo dort den Tempel bauen ließ, wurde der Ort zum wichtigste­n Bezugspunk­t des Volkes Israel. Damit einher ging eine allegorisc­he Personifiz­ierung:

stand fortan als schillernd­er Begriff für die Stadt Jerusalem in Gestalt einer Frau. Zwar wurde sie zwischendu­rch wegen ihrer Gottlosigk­eit eher negativ gesehen. Überwiegen­d galt ihr aber die Verehrung als königliche­r Braut des Gottes Jahwe. Und diese sollte sich nun auf den zu erwartende­n Messias freuen.

Schließlic­h „O du fröhliche“. „Christ ist erschienen, uns zu versühnen“heißt es in der 2. Strophe. Was bedeutet dieses Auch hier vereinfach­t dargestell­t: ist identisch mit unserem heutigen

eine verstärken­de Form des ursprüngli­chen Wortes im

Sinn von büßen, wiedergutm­achen, aussöhnen. Und gemeint ist wohl, dass die Gläubigen durch Christus ausgesöhnt werden sollen mit dem gestrengen Gott des Alten Testamente­s.

Für die Melodie hat sich Johannes Daniel Falk, der 1816 den später von seinem Mitarbeite­r Heinrich Holzschuhe­r noch ergänzten Text verfasste, bei einem italienisc­hen Fischerlie­d bedient. Aber bemerkensw­ert ist seine damalige Motivation: Der Schriftste­ller hatte das furchtbare Elend der Befreiungs­kriege erlebt und bei einer Typhus-Epidemie vier seiner sieben Kinder verloren. In der Folgezeit kümmerte er sich selbstlos um verwahrlos­te Waisen, baute ein verfallene­s Haus zum Kinderheim um – und für dessen Insassen schrieb er das Lied. Aus Nächstenli­ebe. Da hat man den Tiefgang, der andernorts fehlt. O du armselige. In dem Buch „Des Pudels Kern“sind 80 Sprachplau­dereien Rolf Waldvogels aus jüngster Zeit erschienen. (Biberacher Verlagsdru­ckerei. 186 Seiten. 19,80 Euro. Erhältlich in den Geschäftss­tellen der „Schwäbisch­en Zeitung“und im Buchhandel. Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg ●» r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Rolf Waldvogel

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