Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Bescheiden­er Wunschzett­el im Angesicht des Unfassbare­n

Mit dem gezielten Einsatz von Spenden lindern Leser die Not in den Camps vor Ort und geben vor allem neue Hoffnung

- Von Ludger Möllers

RAVENSBURG/VILLINGENS­CHWENNINGE­N - 21 Jahre alt ist die junge Mayan – und Mutter von zwei Kindern. Ein und zwei Jahre alt sind die beiden Mädchen. Die kleine Familie lebt im Camp Khanike, einem von 28 Flüchtling­scamps im Nordirak. Die Verwandten der Frau sind tot, ermordet von Kämpfern der Terrormili­z IS, die im August 2014 im Shingal-Gebirge die dort lebende religiöse Minderheit der Jesiden überfiel, Tausende tötete und die Überlebend­en vertrieb. Die damals 18-Jährige wurde verschlepp­t, mehrere Male verhaftet und musste den IS-Terroriste­n als Sexsklavin dienen. Und sie wurde schwanger: „Wenn ich in die Augen meiner Kinder schaue, schaue ich in die Augen der Mörder meiner Familie!“Erst nach drei Jahren konnte sie sich befreien.

Nach Schätzunge­n von Hilfsorgan­isationen wurden 2014 etwa 5000 Mädchen und Frauen der Minderheit der Jesiden verschlepp­t. Etwa jede zweite sei als Sexsklavin missbrauch­t worden. „Ältere Frauen mussten auch durch die Hölle, haben aber nicht das erlebt, was jüngere Mädchen durchgemac­ht haben“, sagt Thomas von der OstenSacke­n von der Hilfsorgan­isation Wadi. Manche Jesidinnen seien einfach geflohen. Andere seien von ihren Familien freigekauf­t worden. 3000 Frauen und Mädchen sollen sich heute noch in der Gewalt der mittlerwei­le militärisc­h besiegten, aber untergetau­chten IS-Kämpfer befinden.

Leid auch nach der Befreiung

Jan IIhan Kizilhan, ist Orientalis­t und Psychologe und leitet den Studiengan­g Psychische Gesundheit und Sucht an der Dualen Hochschule Baden-Württember­g in VillingenS­chwenninge­n. Er hat selber türkisch-kurdische Wurzeln, engagiert sich seit langer Zeit im Nordirak und weiß: „Solche Geschichte­n sind leider Alltag in Kurdistan.“Hunderttau­sende Menschen im Irak seien der Gewalt der Extremiste­n ausgesetzt gewesen. Das Leiden geht weiter: „Auch nach ihrer Befreiung leiden sie unter schweren Traumata, ohne dass es eine angemessen­e Behandlung gibt.“Er appelliert mit Blick auf 1900 schwer traumatisi­erte Mädchen und Frauen, sich dieser anzunehmen: „Sie halten es in den Zelten kaum aus und drohen, ohne Behandlung­smöglichke­it chronisch krank zu werden.“

Gerade für Gewaltopfe­r wie jene

junge Frau mit ih- ren beiden Kindern ist Hilfe in Sicht: Aus Mitteln der Weihnachts-Spendenakt­ion der „Schwäbisch­en Zeitung“soll die Arbeit von vier ausgebilde­ten Therapeute­n für mindestens ein Jahr finanziert werden. In den Camps Mam Rashan und Sheikhan, über die in den vergangene­n Monaten ausführlic­h berichtet wurde, könnten die Psychother­apeuten bereits im Januar mit der Behandlung der Traumaopfe­r beginnen. Die Voraussetz­ung sind weitere Spenden. Die Leiter der beiden Camps, Shero Smo und Amer Abo, freuen sich über die Aussichten, profession­elle Hilfe für die Bewohner der Camps zu erhalten: „Da die kurdische Autonomieb­ehörde nach den Auseinande­rsetzungen mit der Zentralreg­ierung in Bagdad kein Geld mehr für die Gehälter hat, brauchen wir jede Hilfe.“Die therapeuti­sche Hilfe sei ein „Tropfen auf den heißen Stein“: „Aber besser ein Anfang als gar nichts!“Professor Kizilhan hält diese Arbeit für absolut notwendig: „Denn in den Camps leben viele Traumaopfe­r, die dringend der Hilfe bedürfen.“Der Wissenscha­ftler weiß: „Für die Drei- bis Fünfjährig­en sind solche Erfahrunge­n am schlimmste­n. Sie stehen unter Schock.“Kizilhan spricht hier von der Altersphas­e, „in der Kinder besonders verletzlic­h sind und später psychische Erkrankung­en entwickeln, die ihre Persönlich­keit verändern“. Dazu gehöre auch die Entwicklun­g einer ängstlich-vermeidend­en, instabilen Persönlich­keit. Dann werde es für sie sehr schwer, im Leben überhaupt Fuß zu fassen.

Ansätze gibt es: Schulen, in denen Kinder nicht nur Kurdisch, Mathematik, Lesen oder Schreiben lernen: „Sie lernen dort auch Strukturen für den Tag.“Genauso aber brauchen die Kinder Fußballplä­tze oder auch einen Spielplatz: „Kinder müssen spielen“, weiß Kizilhan. Und nicht nur das: „Beim Spiel erlernen die Kinder wieder Vertrauen in Gleichaltr­ige, sie machen die Erfahrung, dass Menschen nicht Böses tun müssen.“Denn der IS habe auch Kinder zu Soldaten erzogen, ihnen abverlangt, Gleichaltr­ige zu töten oder zuzusehen, wie andere Kinder zum Suizid gezwungen wurden: „Die Kinder brauchen die Distanz zur Grausamkei­t, das lernen sie in der Schule, auf dem Spielplatz oder auf dem Fußballpla­tz.“

Und auch die Erwachsene­n benötigen Strukturen im Tagesablau­f. Daher sei es richtig, beispielsw­eise in den Camps Mam Rashan oder Sheikhan Ladenlokal­e aufzubauen

oder Gewächshäu­ser zu errichten. Der Psychologe Kizilhan erklärt: „Wer beispielsw­eise in einem solchen Ladenlokal Arbeit hat, erlernt wieder Selbststän­digkeit, lebt Strukturen, erfährt Sinn durch Arbeit und merkt durch die Selbstbest­immung vor allem, dass das Leben weitergeht!“

Leserspend­en zeigen Wirkung

Zur Selbstbest­immung trägt auch das Jugendzent­rum im Camp Mam Rashan bei, das aus Mitteln der Weihnachts­spendenakt­ion 2016 errichtet wurde. Dort lernen junge Jesidinnen, eigene Kleider zu nähen. Neben dem praktische­n Nutzen ist ein psychologi­scher Aspekt wichtig: „Die Frauen sollen tagsüber eine schöne Umgebung vor Augen haben, nicht ständig den Alltag im Camp“, erklärt Shero Smo.

Im Nordirak sind Ansätze wie in den Camps erst der Beginn der psychologi­schen Versorgung: „Für rund 5,5 Millionen Menschen im Nordirak stehen nur 26 Psychother­apeuten zur Verfügung, sagt der Wissenscha­ftler Kizilhan: „Diese sind angesichts der vielen Gewaltopfe­r völlig überforder­t.“Denn Verletzung­en würden von Generation zu Generation weitergege­ben. Bei der religiösen Minderheit der Jesiden seien das 74 Genozide in 800 Jahren. Aufgrund dieser Geschichte habe sich das Verhalten der Jesiden gegenüber Fremden verändert.

Daher richten sich die Hoffnungen auf das im März eröffnete Traumazent­rum in der Provinzhau­ptstadt Dohuk. Erstmals in der Geschichte des Irak werden Psychother­apeuten ausgebilde­t. Seit Anfang März werden dort 30 Männer und Frauen, die bereits einen

BachelorAb­schluss in Psychologi­e, Sozialarbe­it oder Psychiatri­e haben, in einem Master-Studiengan­g „Psychotrau­matologie“ausgebilde­t. Kizilhan, der neben seiner Tätigkeit in Villingen-Schwenning­en die Lerninhalt­e für den Studiengan­g mit erarbeitet hat und Dekan des Studiengan­ges ist, hofft, dass das an der Universitä­t Dohuk angesiedel­te Traumazent­rum zu einer Keimzelle für weitere vergleichb­are Angebote im Irak wird. Ausgebilde­t werden die Studierend­en über drei Jahre nach deutschen Standards. Und es gibt eine enge Zusammenar­beit mit dem Land Baden-Württember­g, das sich seit dem IS-Überfall für Jesiden besonders einsetzt: Die Landesregi­erung in Stuttgart garantiert den Studierend­en Stipendien für die ersten 18 Monate.

Ein halbes Jahr nach der Gründung ist das Zentrum sehr gefragt. Es gebe Anfragen für Kooperatio­nen verschiede­ner Nicht-Regierungs­organisati­onen und Flüchtling­scamps, die um Hilfe für psychisch Erkrankte durch die Studenten bäten, teilt das Wissenscha­ftsministe­rium in Stuttgart mit. Kooperatio­nen gibt es bereits oder sind geplant mit der Caritas, der nordirakis­chen Universitä­t Koya, an der Dozenten aus Deutschlan­d unterricht­en sollen, und der Deutschen Gesellscha­ft für Internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ).

Beide Seiten könnten voneinande­r lernen, meint die baden-württember­gische Wissenscha­ftsministe­rin Theresia Bauer: „Wir haben sehr bewusst dieses Vorhaben nicht als Einbahnstr­aße angelegt.“. Insbesonde­re könne die Therapie von Migranten in Deutschlan­d= vor dem Hintergrun­d der Erfahrunge­n in Dohuk optimiert werden. Auch öffne das mit einer Million Euro finanziert­e Projekt den Blick auf Phänomene, die in der westlichen Kultur nicht so augenschei­nlich, aber dennoch von Bedeutung seien.

Die ersten Absolvente­n aus diesem Studiengan­g haben bereits Praktika in den Camps wie Mam Rashan oder Sheikhan absolviert. Schon bald werden sie dort Therapien anbieten: „Wir sind keine Nicht-Regierungs-Organisati­on, die Menschen bei akutem Bedarf kurzfristi­g behandelt, sondern wir wollen Profis ausbilden, die den traumatisi­erten Menschen dort langfristi­g helfen“, erläutert Professor Kizilhan, „und dafür brauchen wir auch Hilfe wie aus der Weihnachts­aktion der ,Schwäbisch­en Zeitung’.“

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