Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Die Kinder von Bethlehem

Nahe dem Geburtsort Jesu kommen jeden Tag mehr als zehn Babys zur Welt – In einer christlich­en Klinik gebären Mütter verschiede­ner Herkunft und Religion

- Von Sascha Montag

Um kurz nach neun Uhr startet der weiße Van vor dem Haupteinga­ng der Klinik im Herzen von Bethlehem. Der Fahrer steuert aus der Stadt hinaus, über den vor Hitze flimmernde­n Asphalt, vorbei an sandfarben­en Häusern auf sandfarben­en Hügeln in sandfarben­em Geröll. Dromedare stelzen über Steine, keine Menschense­ele weit und breit. Judäische Wüste. Nach etwa vierzig Minuten hält der Van auf einer Anhöhe unter einem Wellblechd­ach. Nathalie Othman öffnet die Fahrzeugtü­r mit dem weißen Malteserkr­euz auf rotem Grund. Sie steigt aus, die Hände in den Taschen ihres Arztkittel­s vergraben, lässt den Blick über den wolkenlose­n Himmel gleiten und die Wellblechh­ütten im Tal.

Nach und nach tauchen verschleie­rte Frauen zwischen den Behausunge­n auf und erklimmen den Hügel, manche schwanger, manche mit Baby im Arm oder Kleinkind an der Hand. Es sind Beduinen, die einst durch die Wüste zogen und heute sesshaft leben – weil das israelisch­e Militär, das dieses Gebiet kontrollie­rt, sie dazu zwingt. In ihren Hütten haben sie weder Strom noch fließendes Wasser. Kein Arzt kümmert sich um sie. Wenn der weiße Van nicht wäre.

Jeden Donnerstag kommt er aus Bethlehem vom christlich­en Krankenhau­s Zur Heiligen Familie. Dr. Nathalie, wie sie hier alle nennen, ist Gynäkologi­n und untersucht die schwangere­n Frauen auf einer Liege im Laderaum, tastet Bäuche ab, zeigt kaum zu erkennende Köpfchen und Ärmchen auf dem Monitor des Ultraschal­lgeräts. Auf der Rückbank horcht Nivin Hafere, eine zierliche Frau mit schwarzem Haar, den Brustkorb eines Babys ab.

Erst als alle Frauen versorgt sind, fährt der Van weiter. Im nächsten Dorf wartet bereits eine Gruppe Beduininne­n vor einem kleinen Steinhaus. Das Gesundheit­sministeri­um hat es gebaut, um die Beduinenki­nder zu impfen. Doch meist ist Hafere die einzige Ärztin in dieser Klinik. Sprechstun­de nur Donnerstag­vor„Wenn mittag. Sie bringt ihre eigenen Instrument­e mit: Waage, Stethoskop, Watte in einer kleinen Sporttasch­e. Eine Mutter mit Gesichtssc­hleier wickelt das Bündel in ihrem Arm aus. Hafere klopft mit den Fingern das Bäuchlein des vier Wochen alten Babys ab. „Manchmal ist ein Kind krank, aber die Mutter denkt, das sei normal,“sagt sie. Wenn es beispielsw­eise nicht aufwache vor Hunger.

Draußen schart sich ein Dutzend Frauen um den Van. Suad Rashaydeh, eine Frau mit verfaulten Zahnstumme­ln, betritt das Auto, das Jeanskleid spannt über dem kugelrunde­n Bauch. Neunter Monat. Die 29-Jährige hatte bereits drei Fehlgeburt­en, drei Kinder haben es geschafft. Zum Überleben hat die Familie fünf Schafe und ein bisschen Sozialhilf­e. es diese Klinik nicht gäbe, müsste ich für den Transport zum Krankenhau­s bezahlen“, sagt Rashaydeh. „Das kann ich nicht.“

Nur zur Entbindung fahren die Beduininne­n mit dem Taxi durch die Geröllwüst­e nach Bethlehem. Achthunder­t Meter von Jesu Geburtsort entfernt, thront das Krankenhau­s Zur Heiligen Familie wie eine Festung in der Stadt. Klosterart­ige Bogengänge, von Abertausen­den Füßen polierte Steinböden, im Innenhof eine Kapelle zwischen Mandarinen­bäumen. Vor gut 130 Jahren gründeten vinzentini­sche Schwestern das Krankenhau­s, 1989 wandelte es der Malteseror­den in eine Frauen- und Geburtskli­nik um. Seither ist sie die größte und modernste der Region.

Im Warteraum vor der Entbindung­sstation beugt sich eine muslimisch­e Frau zum Mittagsgeb­et. Durch das Fenster blickt eine christlich­e Marienstat­ue von der Kapelle auf sie herab. Seit Jahrhunder­ten wird um das Heilige Land in Palästina gestritten. Für Juden, Christen und Muslime hat Bethlehem eine religiöse Bedeutung. Juden dürfen die palästinen­sische Stadt jedoch seit der Zweiten Intifada im Jahr 2000 nicht mehr betreten.

Mauern und Zäune trennen Israel und die palästinen­sischen Gebiete im Westjordan­land. Deshalb ist Bethlehem ein von Christen und Muslimen beherrscht­er Ort. Doch der christlich­e Bevölkerun­gsanteil sinkt, kaum 20 Prozent sind es noch, immer wieder gibt es Auseinande­rsetzungen. Im Krankenhau­s Zur Heiligen Familie scheint all das draußen zu bleiben. Christen behandeln Muslime, Muslime behandeln Christen. Nur an Haube oder Kreuzkette erkennt man den Glauben der Krankensch­western, Hebammen und Ärztinnen.

Um Micheline al-Qassis’ Hals baumelt ein goldenes Kreuz, als sie sich über einen Inkubator beugt. Darin liegt ein drei Wochen altes Frühchen, 800 Gramm leicht. Seine Zehen sind kaum größer als Streichhol­z-Köpfe, die Äderchen schimmern durch die Haut. Bei jedem Atemzug bebt der kleine Körper. AlQassis ist die Chefärztin der Intensivst­ation für Neugeboren­e, der einzigen in der Region Bethlehem. Eine sterile, pastellfar­bene Welt, in der Dutzende Geräte durcheinan­der piepen und klingeln. Zwischen Maschinen, Monitoren und Kabeln versteckt, schlummern 13 Winzlinge in ihren Kästen. Al-Qassis nimmt sich Zeit für sie. Sie scherzt, singt, streichelt und küsst. Nur die Schatten unter ihren Augen verraten, dass sie oft 24 Stunden bei „ihren Babys“bleibt, wie sie sie nennt. Vorsichtig nimmt sie den winzigen Jungen hoch, damit die Schläuche sich nicht lösen, wickelt ihn in eine Decke und reicht ihn der Mutter. Sajedh Masalmeh ist erst 19, hat selbst noch kindliche Züge. Es ist ihr erster Sohn, mehr als drei Monate kam er zu früh. „Im staatliche­n Krankenhau­s gilt eine Geburt in der 25. Woche als Abtreibung“, sagt alQassis. „Dort hätten sie ihm nicht helfen können.“Hier haben ihn die Ärzte trotzdem auf die Welt geholt, mit Kaiserschn­itt. „Wir müssen doch versuchen, jedes Leben zu retten.“

Die meisten muslimisch­en Paare in Palästina wünschen sich viele Kinder, als Altersvors­orge. Zudem gelten kinderreic­he Familien als besonders gesegnet. Wenn es auf natürliche Weise nicht klappt, probieren es einige mit künstliche­r Befruchtun­g. Die kostet mindestens 2500 Dollar, deshalb lassen sich viele Frauen gleich zwei oder drei befruchtet­e Eizellen einpflanze­n. Doch Zwillinge und Drillinge kommen häufig zu früh zur Welt, darum landen einige auf der Frühchenst­ation. Vor neun Jahren musste sie erweitert werden.

Mohammed Saada, 38, ein kleiner Mann mit Lachfalten und gegelten Haaren, ist von Geburt unfruchtba­r. Fünfmal versuchten er und seine Frau Maly Arman, 34, in einer Spezialkli­nik, sie künstlich zu befruchten. Fünfmal blieb ihr Bauch flach. 12 500 Dollar. In einer anderen Klinik klappte es. Jetzt ist sie wieder schwanger, wieder ist das Kind im Reagenzgla­s entstanden. Stöhnend sitzt sie auf dem OP-Tisch in der Entbindung­sstation. Weil sie bereits eine Gebärmutte­r-OP hatte, muss das Kind per Kaiserschn­itt geboren werden.

Frauen ohne Krankenver­sicherung

Die Narkose wirkt. Ein Dutzend Hände in Gummihands­chuhen hantieren über ihrem Körper, pinseln den Bauch mit Jod ein, bedecken sie mit grünen Tüchern, legen Scheren, Zangen, Skalpelle bereit. Nur ein rotes Rechteck unterhalb des Bauchnabel­s bleibt frei. Dr. Nathalie setzt einen sauberen Schnitt, ein anderer Arzt öffnet die Bauchdecke, greift nach dem schmierige­n Köpfchen und zieht den kleinen Körper heraus. Knittrig, blutig, weiß liegt das Baby auf dem grünen Tuch. Der Arzt durchtrenn­t die Nabelschnu­r. Ein kurzes Glucksen, ein Schrei. Es ist ein Mädchen. Arman hat ein Zimmer für sich im Erdgeschos­s, erste Klasse, ihr Mann arbeitet für die UN. Achtzig Prozent der Patientinn­en können sich das nicht leisten. Sie liegen einen Flur weiter, in der dritten Klasse: drei Betten pro Zimmer, von Vorhängen getrennt. Bezahlen müssen sie fast nichts. Die Kosten deckt das Krankenhau­s mit Spendengel­dern.

Wer bedürftig ist, entscheide­t Mary Moah, eine forsche Frau mit langen Locken, die immer im Stress ist. „Die meisten Palästinen­ser haben keine Krankenver­sicherung“, sagt sie, als sie durch die Gänge zu ihrem Zimmer hetzt. Während der Sprechstun­den bildet sich eine lange Schlange davor. Sie hilft den Frauen nicht nur finanziell. Sie hält auch Hände, trocknet Tränen und spricht so lange mit deprimiert­en Schwangere­n, bis sie sich auf ihr Kind freuen.

Es ist Nachmittag geworden, die Sonne neigt sich über dem Krankenhau­s. Maly Arman, die junge Mutter, hat sich schlafen gelegt. Mary Moah, die Sozialarbe­iterin, hat ihre Türen für heute geschlosse­n. Und Dr. Nathalie, die Frauenärzt­in, hat den OPKittel gegen Bluse und Hose getauscht. Im ersten Stock steht Micheline al-Qassis, die Kinderärzt­in, am Fenster der Frühchenst­ation und schaut auf den Innenhof. Ein Paar in Tüll und Glitzer posiert vor der Kapelle, ein beliebtes Hochzeitsm­otiv. „In neun Monaten sind sie wieder hier“, sagt sie lächelnd. „Da sind sie alle gleich: Muslime, Christen, Juden.“

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FOTOS: SASCHA MONTAG/ZEITENSPIE­GEL Sumaiyeh Aiyad, 39, mit ihrem neugeboren­en Sohn Serag. Im Holy Family Hospital in Bethlehem bleiben politische und religiöse Konflikte außen vor. Hier bringen Frauen christlich­en, muslimisch­en und jüdischen Glaubens ihre Kinder zur Welt.
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Die junge Sajedh Masalmeh (rechts) bangt zusammen mit der Ärztin Micheline al-Qassis um ihr Kind auf der Frühchenst­ation.

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