Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Der Weihnachts­engel

- Von Manfred Eichhorn

Ohne den Weihnachts­engel kann das Christkind nicht kommen.“Das behauptet zumindest die Heimstraß-Oma. Wir nennen sie so, weil sie in der Heimstraße wohnt. Das ist eine kleine Nebenstraß­e der berühmten Ulmer Olgastraße und nach einem früheren Oberbürger­meister benannt. Die HeimstraßO­ma ist im Übrigen meine Urgroßmutt­er und vor langer Zeit aus dem Altvaterge­birge hierher gezogen. Im Augenblick kramt sie in allen Kisten und Schachteln, im Schrank und in der Kommode. Und sie ist dabei etwas ungehalten, um nicht zu sagen wütend.

„Wenn man nicht alles selber macht!“, schimpft sie, ohne den Satz ganz auszusprec­hen. „Wenn das Christkend in diesem Jahr nicht kommt – also, meine Schuld ist es nicht.“

Die Heimstraß-Oma hat den Christbaum aufgestell­t und ihn mit Kerzen und Kugeln, mit goldenen Nüssen, mit Lametta und mit kleinen, roten Zieräpfeln geschmückt. Nur der Weihnachts­engel fehlte ihr. Und sie setzt sich in ihren Lieblingss­essel und schnauft dreimal kräftig durch. Es scheint, dass sie nun nicht mehr wütend, dafür aber umso trauriger ist.

„Oma, was hast du?“, frage ich sie. „Willst du wissen, warum mir der Weihnachts­engel so fehlt?“, antwortet die Heimstraß-Oma mit einer Frage.

Ich will es wissen und nicke heftig.

„Dann erzähle ich dir jetzt eine Geschichte“, sagt sie und beginnt zu erzählen.

„Es war vor vielen, vielen Jahren. Ich war noch ein Kind, nicht älter als du und es war Heiligaben­d, so wie heute. Mein Vater, dein Urgroßvate­r, Gott hab ihn selig, hatte keine feste Arbeit damals und durfte nur gelegentli­ch bei den Bauern aushelfen. Für ein paar Mark, einen Laib Brot, für Brennholz oder für eine Fünfliterk­anne Milch. Und meine Mutter hat mit Näharbeite­n ein paar Pfennig dazuverdie­nt. Wir waren also richtig arme Leute. Auf Weihnachte­n freute ich mich dennoch. Ganz so, wie du dich auf Weihnachte­n freust. Obwohl ich keine Geschenke erwarten durfte. Zumindest keine großen. Mein Vater hat dann am Morgen des Heiligen Abends einen Tannenbaum aus dem Wald mitgebrach­t, den er später mit Strohstern­en und kleinen Kerzen geschmückt hat. Und plötzlich, ohne dass jemand von uns ihn zuvor gesehen hatte, hing er zwischen den Strohstern­en.“„Wer?“, unterbrech­e ich sie. „Der Weihnachts­engel!“, antwortete die Heimstraß-Oma.

„Weder mein Vater noch meine Mutter konnten sich erklären, wie er in den Baum gelangt ist. Und während wir uns noch darüber wunderten, läutete es an der Haustür. Draußen stand Onkel Willi, der Bruder von meinem Vater. Er hatte für ihn und somit auch für uns die schönste Weihnachts­überraschu­ng dabei. Die Nachricht nämlich, dass er für meinen Vater eine richtige Arbeitsste­lle gefunden hatte. Und natürlich hatte er ein Geschenk für mich dabei. Einen gelben Teddybär. Der arbeitet für die Post, hat Onkel Willi gelacht. Wir alle glaubten fest daran, dass der Weihnachts­engel uns dieses Glück beschert hatte. Und so legten wir ihn, als der Christbaum wieder abgebaut wurde, mit den Strohstern­en in eine Kiste, die wir sorgsam verwahrten bis es wieder Weihnachte­n wurde. Trotz festlichem Schmuck, der später dazukam, trotz der elektrisch­en Kerzen, der Weihnachts­engel war das Wichtigste, was unseren Christbaum zieren durfte. Er sollte für alle Zeit unser Glücksbrin­ger sein.“

Meine Urgroßoma schnauft einmal tief durch, ehe sie weitererzä­hlt.

„Einmal, es war im letzten Kriegsjahr, da fehlte unser Engel. Er war einfach nicht aufzufinde­n. Es war das traurigste Weihnachts­fest, an das ich mich erinnere. Mein Vater war im Krieg. Unsere Stadt lag nach einem Bombenangr­iff in Schutt und Asche. Auch das Haus in dem wir wohnten, war beschädigt, aber es stand zumindest noch. Draußen war es bitterkalt und wir hatten kaum Kohlen, um wenigstens ein Zimmer richtig heizen zu können. Meine Mutter hatte einen winzigen Weihnachts­baum, eine mickrige kleine Fichte, aufgestell­t, aber darunter lagen keine Geschenke. Und zwischen den Strohstern­en suchte ich vergebens den Weihnachts­engel.“

„Und wann ist er wieder aufgetauch­t?“, hake ich ungeduldig nach.

„Am nächsten Heiligen Abend war er, wie ein Wunder, wieder da! Da hängte ihn mein Vater zwischen Christbaum­kugeln und Lametta an den besten Platz, den es im Weihnachts­baum gab.“

Die Heimstraß-Oma nimmt jetzt meine Hände in die ihren, drückt sie ganz fest und sagt: „Verstehst du jetzt, warum ich so verwirrt und

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FOTO: JAKUB PAVLINEC/COLOURBOX

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