Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Essen zwischen Altar und Orgel
Zum 23. Mal gibt es in der Vesperkirche Mahlzeiten für wenig Geld - Zum ersten Mal seit vielen Jahren ohne Pfarrer Rolf Engelhardt
ULM - Auf einmal füllen Klavierklänge das Kirchenschiff. Neben dem Altar steht ein schwarzer Flügel. Ein Mann hat dort Platz genommen, er spielt mit geschlossenen Augen und wiegt den Kopf mit der Musik. Die Atmosphäre in der Pauluskirche wirkt noch ein Stück festlicher. „Das ist einer unserer Gäste“, sagt Gunter Scheitterlein lächelnd. Der Flügel stehe für jeden bereit, der darauf spielen könne.
Aus der Kirche wird eine Art Restaurant
Scheitterlein ist einer der Organisatoren der Ulmer Vesperkirche, deren 23. Auflage am Donnerstag begonnen hat. Einen Monat lang wird die evangelische Pauluskirche an der Frauenstraße zu einer Art Restaurant. Blumenschmuck, Kerzen, weiße Tischdecken. Helfer gehen herum und sammeln die Tabletts ein, mit denen die Gäste ihre Teller zu den Tischen tragen. Die Vesperkirche soll nicht wie eine Mensa wirken.
Manche Besucher kommen regelmäßig, zum Beispiel Erika Ros aus Offenhausen, die sich selbst als Stammgast bezeichnet. „Ich komme schon jahrelang, seit zehn Jahren bestimmt. Und ich mache das noch so lange, wie die Gesundheit mitmacht“, sagt sie. Ros ist in den vergangenen Jahren unter der Woche manchmal täglich zur Vesperkirche gekommen. „Ich bin froh, dass ich mal nicht kochen muss“, sagt Ros lachend. Zuhause kümmert sie sich um ihren kranken Mann und um den zwei Jahre alten Mischlingshund. Das Mittagessen in der Vesperkirche ist für sie eine willkommene Abwechslung zum Alltag.
Heinrich Jasieniecki zählt noch nicht ganz so lange zu den Stammgästen der Vesperkirche. Es ist etwa fünf Jahre her, als ihn ein Bekannter, der inzwischen im Pflegeheim lebt, auf die Vesperkirche aufmerksam gemacht hat. Seitdem kommt Jasieniecki oft, aber nicht immer. „Ich gehe ein bisschen nach der Speisekarte“, sagt er.
Jeden Tag steht in der Vesperkirche ein anderes Gericht auf dem Plan. Trifft es Jasienieckis Geschmack, schnappt sich der Neu-Ulmer sein Fahrrad und fährt zur Pauluskirche in der Ulmer Frauenstraße. Jasieniecki, der im vergangenen Sommer in Rente gegangen ist, schätzt die Atmosphäre in der Kirche. „Es ist schön, hier in der Kirche mit den Leuten zusammenzusein“, sagt der Neu-Ulmer.
Hinter dem Konzept der Vesperkirche steht die Idee des Teilens. Vier Wochen lang öffnet die Pauluskirche im Winter ihre Türen für ein Mittagessen mit Kaffee und Kuchen und eine anschließende Andacht. Für 1,50 Euro gibt es eine Mahlzeit, für 50 Cent können Besucher eine Vespertüte mit Brotzeit fürs Abendessen oder fürs Frühstück mitnehmen. Wer in der Kirche speist, darf so viel essen, wie er schafft. Die Freiwilligen an der Essensausgabe schöpfen Selleriecremesuppe, Nudeln, Gemüse und Geschnetzeltes in großen Portionen in Schüsseln und auf Teller.
Der Preis für das Essen trägt die Kosten bei weitem nicht. Einen Teil des Defizits gleichen Gäste aus, die freiwillig mehr geben. Die Vesperkirche ist für jeden gedacht, egal ob er viel Geld hat oder wenig. Etwa zwei Drittel der Gäste bezahlen den Grundbetrag 1,50 fürs Essen, der Rest gibt fünf Euro. Gunter Scheitterlein rechnet vor, was das bewirkt: Vor zwei Jahren machte die Vesperkirche ein Defizit von rund 14 000 Euro, im vergangenen Jahr waren es nur noch etwa 4000 Euro – weil mehr Leute gekommen waren, die den höheren Preis bezahlen können.
Mehr als 12 000 Mahlzeiten, die in der Küche des Ulmer Annastifts zubereitet werden, hat die Vesperkirche im vergangenen Jahr verteilt, rund 150 Helfer helfen mit. Für die Organisatoren ist es ein Ganztagsjob.
Vorbereitung bis ins kleinste Detail
Pfarrer Rolf Engelhardt betreute die Vesperkirche bis zum vergangenen Jahr. Jetzt ist er offiziell im Ruhestand ist, arbeitet aber weiterhin als Priester in einer österreichischen Gemeine. Der Geistliche hat ein Abschiedsgeschenk hinterlassen, wie Gunter Scheitterlein sagt: „Er hat für dieses Jahr noch alles bis ins kleinste Detail organisiert.“
Die täglichen Andachten wollte nun eigentlich Pfarrer Adelbert Schloz-Dürr leiten. Weil er krankgeschrieben ist, übernehmen andere Geistliche, Mitarbeiter des Dekanats und Freiwillige des Helferkreises diese Aufgabe. Scheitterlein ist gespannt auf den neuen Pfarrer, der die Vesperkirche ab 2019 betreut. „Es wird auf jeden Fall weitergehen“, sagt der Organisator.