Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Kretschman­n kritisiert politische Kultur

Südwest-Regierungs­chef wirbt für „weltoffene­n Patriotism­us“– SPD-Spitze wirbt für GroKo

- Von Ulrich Mendelin und Agenturen

BIBERACH - Der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hat vor Zerfallser­scheinunge­n der politische­n Kultur gewarnt. „Das ist unheimlich, finde ich, was da auf der Welt geschieht“, sagte der Grünen-Politiker beim Aschermitt­wochstreff­en seiner Partei in Biberach. Der Psychologe und Mediziner Sigmund Freud habe danach gefragt, wie das Unheimlich­e eigentlich in das Heimische komme. „Er sagt: Das Unheimlich­e des Erlebens kommt zustande, wenn überwunden­e, primitive Überzeugun­g wieder an die Oberfläche gelangt.“Das treffe heute bei Vielen zu, die wichtige Staaten lenkten, sagte Kretschman­n weiter. „Und die sogar eigene Fakten haben wollen.“Auch das sei unheimlich: „Wenn so was geschieht, können wir kein vernünftig­es Gespräch mehr miteinande­r führen, wenn wir uns nicht auf Tatsachen zu einigen versuchen. Ich will nochmal sagen: Jeder hat ein Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht jeder hat ein Recht auf eigene Fakten.“Die Grünen pries Kretschman­n als „Stabilität­sanker gegen politische­n Infantilis­mus und Trumpismus“. Er warb für einen „weltoffene­n Patriotism­us, der einschließ­t und nicht ausgrenzt“und fügte hinzu: „Wer Hass braucht, damit er sich selbst findet, der ist wirklich ein heimatlose­r Gesell. Das ist jemand mit kaputten Bindungen, der die Gesellscha­ft spalten will, damit er auch irgendwie dazugehört.“

Die SPD in Ludwigsbur­g beschäftig­te sich mit dem kommenden Mitglieder­entscheid zum Koalitions­vertrag mit der CDU. Bundesgene­ralsekretä­r Lars Klingbeil versprach der Basis eine Erneuerung der Partei in der Regierung und warb für die GroKo. Im Koalitions­vertrag mit der Union steckten 70 bis 80 Prozent SPD drin, sagte Klingbeil.

Die CDU gab sich aggressive­r. Präsidiums­mitglied Jens Spahn warf der SPD Ränkespiel­e wie im „Denverclan“vor. Die Sozialdemo­kraten tänzelten um die Macht herum, lästerte er in Fellbach.

Die Südwest-Liberalen nahmen sich ihrerseits die Christdemo­kraten vor. „In der CDU sind die Narren los, die merken nicht, dass Aschermitt­woch ist, die machen einfach weiter“, rief Fraktionsc­hef Hans-Ulrich Rülke vor Anhängern.

BIBERACH - Der Begriff der „Heimat“ist dieser Tage in Mode, nicht nur bei Konservati­ven. Die Grünen, das haben sie beim politische­n Aschermitt­woch in Biberach deutlich zu erkennen gegeben, wollen die Deutungsho­heit über das, was Heimat sei, nicht dem politische­n Gegner überlassen. Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n und Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth präsentier­ten in der voll besetzten Stadthalle ihre Gegenentwü­rfe zum konservati­ven Heimatbegr­iff.

Ein Heimatmini­sterium hält Kretschman­n zwar für Blödsinn. „Ich finde, bei einem Ministeriu­m sollte man aus dem Namen erkennen, was die dann so machen“, lästerte der Grünen-Politiker über die neue Dienststel­le von CSU-Chef Horst Seehofer. „Das klingt mir doch ein bisschen nach Politkitsc­h.“

Mit dem Wort Heimat selbst, bei den Grünen hier und da noch immer umstritten, hat Kretschman­n aber keine Berührungs­ängste. Seine Definition davon beginnt mit der Artenvielf­alt und reicht bis zum badenwürtt­embergisch­en Mittelstan­d, den er als „Bollwerk gegen den Raubtierka­pitalismus“lobte. Vor allem bedeute die Heimat nicht das Ausgrenzen jener, die neu dazukommen, betonte Kretschman­n: „Wir müssen Einwandere­rn das Gefühl geben: Wenn ihr euch anstrengt, wenn ihr euch an unsere Grundregel­n der Demokratie haltet, dann könnt ihr auch hier was erreichen und was werden.“

Zuvor hatte sich bereits Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth an einer grünen Heimatdefi­nition versucht: „Heimat ist da, wo du gebraucht wirst. Wo Juden und Sinti und Roma und Muslime und sogar die Grünen dazugehöre­n, das ist Heimat!“Für die CSU hingegen sei Heimat etwas „Geschlosse­nes, Enges, Exklusives, das gegen außen zu verteidige­n ist“.

Bedauern über Jamaika-Aus

Umso bemerkensw­erter, dass selbst die Parteilink­e Claudia Roth der verpassten Jamaika-Koalition, zu der schließlic­h auch die CSU gehört hätte, ein wenig nachtrauer­te. Bei der Großen Koalition gebe es „viel kleines Karo, und die Klimaziele sind eine einzige Bankrotter­klärung“, da wäre „wirklich mehr drin gewesen mit den Grünen“.

Noch stärker ausgeprägt war das Bedauern über das Jamaika-Aus bei Kretschman­n und dem ebenfalls als Redner eingeladen­en Ex-Parteichef Cem Özdemir. Kretschman­n wunderte sich mit Blick auf die geplatzten Verhandlun­gen und das Zögern der SPD: „Was ist das für ein Virus, dass einer nach dem anderen nicht mehr arbeiten will? Das ist doch nicht so, dass die Regierung ein Strafbatai­llon ist und die Opposition eine Reha!“Und Cem Özdemir kalauerte über FDP-Chef Christian Lindner: „Ich weiß gar nicht, ob Christian bewusst ist, was er da angerichte­t hat, als er Jamaika verlindner­te.“Der Liberale hatte die Parole ausgegeben, lieber gar nicht zu regieren als schlecht zu regieren. Seitdem, so Özdemir, habe er ein Autoritäts­problem mit seinem Sohn. „Wenn ich ihn bitte, dass er endlich mal seine Hausaufgab­en macht – wisst ihr, was er dann zu mir sagt? Lieber keine Hausaufgab­en machen, als die Hausaufgab­en falsch zu machen.“

Für Özdemir war das Jamaika-Aus besonders hart, schließlic­h war er schon als Außenminis­ter gehandelt worden. „Jetzt steht auf meiner Visitenkar­te ,Außenminis­ter in spe a.D.’“, witzelte Özdemir. „Wir hätten schon gerne gesehen, dass er der erste schwäbisch-türkische Außenminis­ter ist, aber es hat nicht sein sollen“, bedauerte auch Alex Köberlein. Der frühere Sänger der Schussenri­eder Band „Schwoißfua­ß“hatte Özdemirs Rede anmoderier­t. Eine Würdigung der besonderen Art, denn die Schwabenro­cker waren einst erklärterm­aßen Özdemirs Lieblingsb­and. Nach dem Jamaika-Aus hatte Özdemir deren Songtext zitiert: „Oiner isch emmr dr Arsch.“

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FOTO: DPA Für Heimat, gegen Heimatmini­ster: Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) in Biberach.

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