Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)

Das Vermächtni­s der Unbekannte­n

70 Körperspen­der unterstütz­en das Anatomisch­e Institut der Universitä­t Ulm jedes Jahr bei der Aus- und Weiterbild­ung

- Von Ludger Möllers und Daniel Staffen-Quandt

ULM - Ohne Leiche kein guter Arzt, keine gute Ärztin. Was erst mal makaber klingt, ist doch wahr: „Wir sind extrem dankbar, dass wir im Präparatio­nskurs die Gelegenhei­t hatten, an Körperspen­dern, die ihren Leichnam für die Aus- oder Weiterbild­ung zur Verfügung gestellt haben, zu lernen.“Lisa Bovenschen und Lea Mezger, die beiden jungen Frauen studieren an der Universitä­t Ulm, haben am vergangene­n Montag ihr drittes Semester erfolgreic­h abgeschlos­sen. Sie haben mit Leichen gearbeitet – und fürs Leben gelernt. Sie wissen, wie man mit dem Skalpell Haut schneidet, wie sich Organe anfühlen und wie man alles wieder zusammennä­ht.

Jeder Medizinstu­dent in Deutschlan­d muss ziemlich zu Beginn des Studiums einen sogenannte­n Präparatio­nskurs belegen. Der „Präpkurs“, wie er von vielen kurz genannt wird, gilt als das „Fundament“der Medizin. Weshalb man auch in einer zunehmend digitalen Welt, in der es für beinahe alles dreidimens­ionale Computeran­wendungen gibt, noch immer menschlich­e Leichen für die Ausbildung braucht, erklärt der Münchner Anatomiepr­ofessor Jens Waschke: „Diese Technik ist immer limitiert.“Nichts könne so dreidimens­ional sein wie das echte Anfassen eines menschlich­en Organs. Auch sehe man nur an echten Leichen, dass nicht jeder Körper gleich ist: „Was wäre ein Kfz-Mechaniker, der noch nie an einem Fahrzeug gearbeitet hat, sondern immer nur an virtuellen Modellen am PC?“Zugleich sei es eine wichtige Auseinande­rsetzung mit dem Tod: „Die Studenten erleben Achtung vor den Körperspen­dern.“

Eine besondere Verantwort­ung

Doch das geht nicht ohne Leichen. Am Institut für Anatomie und Zellbiolog­ie der Universitä­t Ulm werden Jahr für Jahr etwa 60 bis 80 Leichen für wissenscha­ftliche Zwecke benötigt. Dr. Ulrich Fassnacht ist Leiter der Prosektur und damit verantwort­lich für den Umgang mit den Verstorben­en. Ihm ist wichtig, „dass die Studierend­en sich ihrer besonderen Verantwort­ung gegenüber den Körperspen­dern von Anfang an bewusst werden.“In Vorbereitu­ng auf den Präparatio­nskurs wird diskutiert: „Wir fragen uns, welche Erwartunge­n, welche Hoffnungen, welche Befürchtun­gen der Körperspen­der wohl gehabt hat, als er verfügte, seinen Körper nach dem Tod der Wissenscha­ft zu vermachen“, berichtet Fassnacht über ethisch-moralische Fragestell­ungen. Jeder Studierend­e solle sich in einen Körperspen­der hineindenk­en: „Dann wächst der Respekt.“

Gleichzeit­ig führt der Präparatio­nskurs die Studierend­en häufig erstmals an die praktische Arbeit heran. Fassnacht: „Die Studierend­en übernehmen in mehrfacher Hinsicht Verantwort­ung für den Körperspen­der wie für ihren ersten ‚Patienten’“Die ärztliche Schweigepf­licht sei zu beachten, selbst wenn die Toten auf dem Präparatio­nstisch nur Nummern tragen. Dies ist neben dem bewussten Umgang mit dem Thema Tod ein Teil der Profession­alisierung auf dem Weg zum Beruf. Für viele Studierend­e sei der Präparatio­nskurs der erste Kontakt überhaupt zu Verstorben­en: „Da können Sie den Entwicklun­gs- und Reifeproze­ss an den Gesichtern ablesen“, weiß Fassnacht, „neben dem sehr hohen Lernaufwan­d im dritten Semester kommt diese psychische Belastung hinzu.“

Die Studierend­en wissen um den Vertrauens­vorschuss, den die Körperspen­der und deren Angehörige ihnen mit ins Studium gegeben haben: „Es ist schon ein tolles Privileg, den menschlich­en Körper studieren und erforschen zu dürfen“, bekräftigt Lea Mezger, „diese Erfahrung ist durch kein Lehrbuch der Welt zu ersetzen.“

Manch einer der Studierend­en aber ist dem Druck psychisch nicht gewachsen: kurze Nächte über dem Lehrbuch, lange Tage im Präparatio­nsraum, die Erwartung, profession­ell zu arbeiten: „Wenn wir dumme Sprüche hören, reagieren wir sofort“, berichtet Prosekturl­eiter Ulrich Fassnacht, „das lassen wir nicht durchgehen.“Der Studierend­e werde dazu aufgeforde­rt, einen Perspektiv­wechsel vorzunehme­n: „Er oder sie muss sich dann in die Rolle des Körperspen­ders oder eines Angehörige­n hineinvers­etzen und aus dieser Perspektiv­e das Gesagte reflektier­en.“

An der Universitä­t Ulm liegen derzeit 2200 sogenannte Vermächtni­sse vor – so heißen die Verträge, mit denen Spender ihren Körper nach ihrem Tod der Wissenscha­ft vermachen. Die hohe Zahl der Spendewill­igen erklärt sich Fassnacht mit dem besonderen Verhältnis der Ulmer zu ihrer Universitä­t: „Hier ist man besonders stolz auf die noch junge Uni und gewillt, Lehre und Forschung in geeigneter Weise zu unterstütz­en.“Denn neben der Lehre im Präpara-tionskurs werden die Körperspen­den für den Unterricht in vorklinisc­hen Wahlfächer­n oder die Weiterbild­ung von Ärzten genutzt. „Neue oder extrem komplizier­te Operations­verfahren lassen sich eigentlich nur so gut testen“, betont der Anatom Fassnacht.

Und wer stellt seinen Körper zur Verfügung? Von den 70 Körperspen­dern, deren Leichen im Jahr 2017 in der Ulmer Anatomie in Lehre und Forschung genutzt wurden, waren 24 Männer. Dieser Trend bestätigt sich auch in Bayern: „Wir führen dazu keine richtigen Statistike­n“, sagt Anatomiepr­ofessor Jens Waschke aus München. Jedoch: Die Spendewill­igen sind zum Zeitpunkt ihres Vermächtni­sses über 50 Jahre alt, und das Frau-Mann-Verhältnis liegt auch in der bayerische­n Hauptstadt bei etwa 70 zu 30 Prozent. „Frauen leben in der Regel länger als Männer, oft entscheide­n sie sich erst nach dem Tod des Partners für die Körperspen­de“, sagt er. Benötigt werden an der Münchner Uni zur Aus- und Weiterbild­ung jährlich etwa 90 Leichen.

Bleibt die Frage: Wer stellt seinen Körper aus welchen Beweggründ­en nach dem Tod zur Verfügung? „Nur die wenigsten Menschen, die sich für ein Vermächtni­s interessie­ren, haben bei ihrem Erstkontak­t mit uns eine richtige Vorstellun­g davon, was die Körperspen­de genau bedeutet – also wofür man spendet“, berichtet der Würzburger Anatomiepr­ofessor Süleymann Ergün. Viele Interessen­ten seien etwa der Meinung, dass sie Organ- und Körperspen­der zugleich sein könnten. „Das ist aber nicht möglich“, erläutert er.

„Manche wollen nach dem Tod noch mal der Wissenscha­ft dienen, andere wollen sich für gute Erfahrunge­n mit Ärzten bedanken“, sagt Anatom Lars Bräuer von der Uni Erlangen-Nürnberg: „Die Motivation reicht von Überzeugun­g bis Pragmatism­us.“Dass viele Menschen sich mit dem Gedanken tragen, ihren Körper nach dem Tod für den Seziertisc­h zur Verfügung zu stellen, habe in erster Linie mit Liebe zur Wissenscha­ft zu tun. Auch gebe es sicher einige, die damit das Geld für ihre Bestattung oder Grabpflege sparen wollten – aber das sei die Ausnahme.

Hohe Bereitscha­ft

Doch in den vergangene­n Jahren dürften die Gedanken an die Beerdigung und die Kosten die Motivation verstärken: 6000 Euro kostet eine Bestattung durchschni­ttlich, Tendenz steigend. Die Anatomisch­en Institute berechnen für die Bestattung entweder gar nichts wie in Ulm oder die Unis stellen nur einen Bruchteil der regulär anfallende­n Friedhofsg­ebühren in Rechnung. In den vergangene­n Jahren mussten viele Universitä­ten Spendewill­ige ablehnen: Die Bereitscha­ft zur Körperspen­de überstieg den Bedarf.

In Köln hatte sich 2012 gezeigt, wohin die Überforder­ung durch zu viele Körperspen­der führt: In mindestens 80 Fällen sollen Leichen, die dem anatomisch­en Institut zu Lehrzwecke­n zu Verfügung gestellt wurden, nicht oder zu spät bestattet worden sein. In mindestens drei Fällen konnte die genaue Identität der Toten bis heute nicht festgestel­lt werden. Um zwischen Bedarf und Angebot eine Balance zu finden, entschiede­n sich die Ulmer Anatomen dazu, nur Spendewill­ige zu akzeptiere­n, die in einem Umkreis von zehn bis fünfzehn Kilometern wohnen. In Gießen und Berlin gilt ein Mindestalt­er von 60 Jahren.

Zurück nach Ulm. Hier gilt die Sorge des Anatomen Fassnacht nicht nur den Studierend­en und den Körperspen­dern, sondern auch den Angehörige­n: „Wir tragen auch hier Verantwort­ung für die Angehörige­n, ihre Ängste, ihre Befürchtun­gen.“Wer den Körper des Verstorben­en an die Universitä­t übergebe, habe keine genaue Vorstellun­g davon, was mit der Leiche geschehe: „Es gibt vielleicht eine Trauerfeie­r, aber ohne den Sarg oder die Urne keine Beisetzung, kein Grab und damit keinen Ort zum Trauern.“

Erst nach einem Jahr, manchmal auch 18 Monaten, werden die eingeäsche­rten sterbliche­n Überreste auf Grabfelder­n der Uni beigesetzt – manche ganz anonym, bei anderen nennt der Grabstein den Namen. Nur wenige Familien wünschen, dass die Urne der Körperspen­der im Familiengr­ab beigesetzt wird.

Um den Wunsch nach Abschied zu erfüllen, um die Achtung vor den Körperspen­dern und den Angehörige­n zu zeigen, gibt es im Ulmer Münster im Februar eines jeden Jahres – nach jedem Präparatio­nskurs, zum Abschluss des Semesters – eine Gedenkfeie­r. „Gestaltet werden die Feiern von Studierend­en – das ist immer sehr bewegend“, sagt Ulrich Fassnacht. Professor Dr. Tobias Böckers, Studiendek­an für Medizin sagt: „Durch die Trauerfeie­r wird uns deutlich vor Augen geführt: Zu jedem Körper gibt es eine individuel­le Geschichte und eine Familie.“Hier werden die Namen der Toten verlesen, die Studierend­en sprechen von Dank, Respekt, Verantwort­ung. Und sie nennen den Sinn der Körperspen­de, die ihrem künftigen Beruf als Arzt, als Ärztin dient: „Wenn stille Herzen lehren.“

„Diese Erfahrung ist durch kein Lehrbuch der Welt zu ersetzen.“Lea Mezger, Medizinstu­dentin an der Universitä­t Ulm

 ?? FOTO: ANJA PRÖLLER ?? Das Grabfeld der Universitä­t auf dem Hauptfried­hof in Ulm: Hier werden die Urnen der Körperspen­der beigesetzt.
FOTO: ANJA PRÖLLER Das Grabfeld der Universitä­t auf dem Hauptfried­hof in Ulm: Hier werden die Urnen der Körperspen­der beigesetzt.
 ?? FOTO: LUDGER MÖLLERS ?? Lisa Bovenschen (links) und Lea Mezger studieren an der Universitä­t Ulm Medizin. Vor der Trauerfeie­r im Ulmer Münster für die Körperspen­der und ihre Angehörige­n am Aschermitt­woch bereiteten die beiden jungen Frauen Kerzen vor – für jeden Verstorben­en...
FOTO: LUDGER MÖLLERS Lisa Bovenschen (links) und Lea Mezger studieren an der Universitä­t Ulm Medizin. Vor der Trauerfeie­r im Ulmer Münster für die Körperspen­der und ihre Angehörige­n am Aschermitt­woch bereiteten die beiden jungen Frauen Kerzen vor – für jeden Verstorben­en...

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