Schwäbische Zeitung (Alb-Donau)
Das Vermächtnis der Unbekannten
70 Körperspender unterstützen das Anatomische Institut der Universität Ulm jedes Jahr bei der Aus- und Weiterbildung
ULM - Ohne Leiche kein guter Arzt, keine gute Ärztin. Was erst mal makaber klingt, ist doch wahr: „Wir sind extrem dankbar, dass wir im Präparationskurs die Gelegenheit hatten, an Körperspendern, die ihren Leichnam für die Aus- oder Weiterbildung zur Verfügung gestellt haben, zu lernen.“Lisa Bovenschen und Lea Mezger, die beiden jungen Frauen studieren an der Universität Ulm, haben am vergangenen Montag ihr drittes Semester erfolgreich abgeschlossen. Sie haben mit Leichen gearbeitet – und fürs Leben gelernt. Sie wissen, wie man mit dem Skalpell Haut schneidet, wie sich Organe anfühlen und wie man alles wieder zusammennäht.
Jeder Medizinstudent in Deutschland muss ziemlich zu Beginn des Studiums einen sogenannten Präparationskurs belegen. Der „Präpkurs“, wie er von vielen kurz genannt wird, gilt als das „Fundament“der Medizin. Weshalb man auch in einer zunehmend digitalen Welt, in der es für beinahe alles dreidimensionale Computeranwendungen gibt, noch immer menschliche Leichen für die Ausbildung braucht, erklärt der Münchner Anatomieprofessor Jens Waschke: „Diese Technik ist immer limitiert.“Nichts könne so dreidimensional sein wie das echte Anfassen eines menschlichen Organs. Auch sehe man nur an echten Leichen, dass nicht jeder Körper gleich ist: „Was wäre ein Kfz-Mechaniker, der noch nie an einem Fahrzeug gearbeitet hat, sondern immer nur an virtuellen Modellen am PC?“Zugleich sei es eine wichtige Auseinandersetzung mit dem Tod: „Die Studenten erleben Achtung vor den Körperspendern.“
Eine besondere Verantwortung
Doch das geht nicht ohne Leichen. Am Institut für Anatomie und Zellbiologie der Universität Ulm werden Jahr für Jahr etwa 60 bis 80 Leichen für wissenschaftliche Zwecke benötigt. Dr. Ulrich Fassnacht ist Leiter der Prosektur und damit verantwortlich für den Umgang mit den Verstorbenen. Ihm ist wichtig, „dass die Studierenden sich ihrer besonderen Verantwortung gegenüber den Körperspendern von Anfang an bewusst werden.“In Vorbereitung auf den Präparationskurs wird diskutiert: „Wir fragen uns, welche Erwartungen, welche Hoffnungen, welche Befürchtungen der Körperspender wohl gehabt hat, als er verfügte, seinen Körper nach dem Tod der Wissenschaft zu vermachen“, berichtet Fassnacht über ethisch-moralische Fragestellungen. Jeder Studierende solle sich in einen Körperspender hineindenken: „Dann wächst der Respekt.“
Gleichzeitig führt der Präparationskurs die Studierenden häufig erstmals an die praktische Arbeit heran. Fassnacht: „Die Studierenden übernehmen in mehrfacher Hinsicht Verantwortung für den Körperspender wie für ihren ersten ‚Patienten’“Die ärztliche Schweigepflicht sei zu beachten, selbst wenn die Toten auf dem Präparationstisch nur Nummern tragen. Dies ist neben dem bewussten Umgang mit dem Thema Tod ein Teil der Professionalisierung auf dem Weg zum Beruf. Für viele Studierende sei der Präparationskurs der erste Kontakt überhaupt zu Verstorbenen: „Da können Sie den Entwicklungs- und Reifeprozess an den Gesichtern ablesen“, weiß Fassnacht, „neben dem sehr hohen Lernaufwand im dritten Semester kommt diese psychische Belastung hinzu.“
Die Studierenden wissen um den Vertrauensvorschuss, den die Körperspender und deren Angehörige ihnen mit ins Studium gegeben haben: „Es ist schon ein tolles Privileg, den menschlichen Körper studieren und erforschen zu dürfen“, bekräftigt Lea Mezger, „diese Erfahrung ist durch kein Lehrbuch der Welt zu ersetzen.“
Manch einer der Studierenden aber ist dem Druck psychisch nicht gewachsen: kurze Nächte über dem Lehrbuch, lange Tage im Präparationsraum, die Erwartung, professionell zu arbeiten: „Wenn wir dumme Sprüche hören, reagieren wir sofort“, berichtet Prosekturleiter Ulrich Fassnacht, „das lassen wir nicht durchgehen.“Der Studierende werde dazu aufgefordert, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: „Er oder sie muss sich dann in die Rolle des Körperspenders oder eines Angehörigen hineinversetzen und aus dieser Perspektive das Gesagte reflektieren.“
An der Universität Ulm liegen derzeit 2200 sogenannte Vermächtnisse vor – so heißen die Verträge, mit denen Spender ihren Körper nach ihrem Tod der Wissenschaft vermachen. Die hohe Zahl der Spendewilligen erklärt sich Fassnacht mit dem besonderen Verhältnis der Ulmer zu ihrer Universität: „Hier ist man besonders stolz auf die noch junge Uni und gewillt, Lehre und Forschung in geeigneter Weise zu unterstützen.“Denn neben der Lehre im Präpara-tionskurs werden die Körperspenden für den Unterricht in vorklinischen Wahlfächern oder die Weiterbildung von Ärzten genutzt. „Neue oder extrem komplizierte Operationsverfahren lassen sich eigentlich nur so gut testen“, betont der Anatom Fassnacht.
Und wer stellt seinen Körper zur Verfügung? Von den 70 Körperspendern, deren Leichen im Jahr 2017 in der Ulmer Anatomie in Lehre und Forschung genutzt wurden, waren 24 Männer. Dieser Trend bestätigt sich auch in Bayern: „Wir führen dazu keine richtigen Statistiken“, sagt Anatomieprofessor Jens Waschke aus München. Jedoch: Die Spendewilligen sind zum Zeitpunkt ihres Vermächtnisses über 50 Jahre alt, und das Frau-Mann-Verhältnis liegt auch in der bayerischen Hauptstadt bei etwa 70 zu 30 Prozent. „Frauen leben in der Regel länger als Männer, oft entscheiden sie sich erst nach dem Tod des Partners für die Körperspende“, sagt er. Benötigt werden an der Münchner Uni zur Aus- und Weiterbildung jährlich etwa 90 Leichen.
Bleibt die Frage: Wer stellt seinen Körper aus welchen Beweggründen nach dem Tod zur Verfügung? „Nur die wenigsten Menschen, die sich für ein Vermächtnis interessieren, haben bei ihrem Erstkontakt mit uns eine richtige Vorstellung davon, was die Körperspende genau bedeutet – also wofür man spendet“, berichtet der Würzburger Anatomieprofessor Süleymann Ergün. Viele Interessenten seien etwa der Meinung, dass sie Organ- und Körperspender zugleich sein könnten. „Das ist aber nicht möglich“, erläutert er.
„Manche wollen nach dem Tod noch mal der Wissenschaft dienen, andere wollen sich für gute Erfahrungen mit Ärzten bedanken“, sagt Anatom Lars Bräuer von der Uni Erlangen-Nürnberg: „Die Motivation reicht von Überzeugung bis Pragmatismus.“Dass viele Menschen sich mit dem Gedanken tragen, ihren Körper nach dem Tod für den Seziertisch zur Verfügung zu stellen, habe in erster Linie mit Liebe zur Wissenschaft zu tun. Auch gebe es sicher einige, die damit das Geld für ihre Bestattung oder Grabpflege sparen wollten – aber das sei die Ausnahme.
Hohe Bereitschaft
Doch in den vergangenen Jahren dürften die Gedanken an die Beerdigung und die Kosten die Motivation verstärken: 6000 Euro kostet eine Bestattung durchschnittlich, Tendenz steigend. Die Anatomischen Institute berechnen für die Bestattung entweder gar nichts wie in Ulm oder die Unis stellen nur einen Bruchteil der regulär anfallenden Friedhofsgebühren in Rechnung. In den vergangenen Jahren mussten viele Universitäten Spendewillige ablehnen: Die Bereitschaft zur Körperspende überstieg den Bedarf.
In Köln hatte sich 2012 gezeigt, wohin die Überforderung durch zu viele Körperspender führt: In mindestens 80 Fällen sollen Leichen, die dem anatomischen Institut zu Lehrzwecken zu Verfügung gestellt wurden, nicht oder zu spät bestattet worden sein. In mindestens drei Fällen konnte die genaue Identität der Toten bis heute nicht festgestellt werden. Um zwischen Bedarf und Angebot eine Balance zu finden, entschieden sich die Ulmer Anatomen dazu, nur Spendewillige zu akzeptieren, die in einem Umkreis von zehn bis fünfzehn Kilometern wohnen. In Gießen und Berlin gilt ein Mindestalter von 60 Jahren.
Zurück nach Ulm. Hier gilt die Sorge des Anatomen Fassnacht nicht nur den Studierenden und den Körperspendern, sondern auch den Angehörigen: „Wir tragen auch hier Verantwortung für die Angehörigen, ihre Ängste, ihre Befürchtungen.“Wer den Körper des Verstorbenen an die Universität übergebe, habe keine genaue Vorstellung davon, was mit der Leiche geschehe: „Es gibt vielleicht eine Trauerfeier, aber ohne den Sarg oder die Urne keine Beisetzung, kein Grab und damit keinen Ort zum Trauern.“
Erst nach einem Jahr, manchmal auch 18 Monaten, werden die eingeäscherten sterblichen Überreste auf Grabfeldern der Uni beigesetzt – manche ganz anonym, bei anderen nennt der Grabstein den Namen. Nur wenige Familien wünschen, dass die Urne der Körperspender im Familiengrab beigesetzt wird.
Um den Wunsch nach Abschied zu erfüllen, um die Achtung vor den Körperspendern und den Angehörigen zu zeigen, gibt es im Ulmer Münster im Februar eines jeden Jahres – nach jedem Präparationskurs, zum Abschluss des Semesters – eine Gedenkfeier. „Gestaltet werden die Feiern von Studierenden – das ist immer sehr bewegend“, sagt Ulrich Fassnacht. Professor Dr. Tobias Böckers, Studiendekan für Medizin sagt: „Durch die Trauerfeier wird uns deutlich vor Augen geführt: Zu jedem Körper gibt es eine individuelle Geschichte und eine Familie.“Hier werden die Namen der Toten verlesen, die Studierenden sprechen von Dank, Respekt, Verantwortung. Und sie nennen den Sinn der Körperspende, die ihrem künftigen Beruf als Arzt, als Ärztin dient: „Wenn stille Herzen lehren.“
„Diese Erfahrung ist durch kein Lehrbuch der Welt zu ersetzen.“Lea Mezger, Medizinstudentin an der Universität Ulm